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umschwünge, Unwetter, Regen, Nebeleinbrüche und heftiger Wind begleiten –
ähnlich wie in Leberts »Wolfshaut«-Roman
– das Handlungsgeschehen in »Die
Kinder der Toten«. Da wird zum Beispiel der »rasende Rauch des Nebels«716
angekündigt oder plötzlich aufkommender Wind beschrieben :
»Der Wind wird immer stärker, ein heftiges Atmen, ein weißes Hauchen weht über
die Flanken des Gebirges, die Schatten zucken in den Klüften, den Hautfalten, die mit
Menschenwachs geölt sind, damit sie vom vielen Dreck nicht wund werden.«717
»… es droht ja zu dieser Jahreszeit jeden Moment das sogenannte schlechte Wetter.
Regen haben wir heuer im Sommer genug gehabt, und die schweren Güsse der letz-
ten Wochen, die immer wieder, wie Vogelschwärme, über das Land hergefallen sind
und seine Wege und Straßen zerbissen haben, und zwar in enormer Ausdehnung des
überregneten Gebiets, sind noch in frischer Erinnerung. Das Wasser hat die Leute von
der Haut der Landschaft heruntergeklescht, als hätte sich ein Oberer, nein, nicht ein
Ober, höher !, dann hat der Schlag mehr Wucht, von ihnen wie von einem Ungeziefer
belästigt gefühlt.«718
»Der Himmel ist eben noch strahlend blau gewesen … aber dort drüben, wo das Wetter
herkommt, dort braut es sich jetzt wirklich zusammen, es wird fast unmerklich dunkler,
es wird scho glei dumper, nein, das Christkind kommt noch nicht. Es ist anders als
sonst, wenn ein Gewitter kommt.«719
»Immer öfter brüllt jetzt stoßweise dieser Wind auf, in dicken wattigen Böen kehrt er
den Himmel, fährt über alles hinweg, ein Maler, dem die Lebewesen, die er malt, dafür
das Leben weggenommen haben.«720
Mitunter wird die Natur oder werden Naturerscheinungen (wie etwa oben ge-
nannte Wetterumschwünge) auch anthropomorphisiert dargestellt – möglicher-
weise auch eine motivische Übernahme von Lebert721, die das Ausdrücken des
»Unheimlichen« verstärkt. So ist bei Lebert der Wind ein Kutscher, der »saß
dort oben und knallte mit seiner Peitsche, hetzte die Wolken über das Land
und pfiff ein altes Fuhrmannslied«722. Auch bei Jelinek kommen Nebelfetzen
716 KDT, S. 27.
717 KDT, S. 102 f.
718 KDT, S. 514.
719 KDT, S. 520.
720 KDT, S. 625.
721 Vgl. Scheidl, Ein Land auf dem rechten Weg, S. 153 f.
722 Lebert, Wolfshaut, S. 68.
228 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319