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Es bleibt anzuzweifeln, dass Alkoholmissbrauch in Österreich ein nationa-
les Spezifikum darstellt, ebenso wenig wie Österreicher harmloser, gemütli-
cher oder weniger obrigkeitshörig sind als Angehörige anderer Nationalitäten.
Elfriede Jelinek ist eine Autorin, die ihre Analysen immer sehr zielgerichtet
auf österreichische Verhältnisse fokussiert. Dass das Trinken hierzulande eine
»Landessitte« darstellt, wie die Autorin in »Die Kinder der Toten« mit zahl-
reichen Seitenhieben andeutet, hat jedenfalls nicht zu bedeuten, dass anderswo
nicht getrunken würde.
3.2.5.6 Mythos der Einmaligkeit : Kontexte und Kontinuitäten
»In der Umgebung, in den verschiedenen
Ausflugsorten, wollen … Menschen schon wieder
zackig den Arm heben.«793
»Die Kinder der Toten« entstand in der ersten Hälfte der 1990er Jahre. Eine »kleine
Gespenstergeschichte«794 hatte daraus werden sollen
– am Ende wurde es das Opus
Magnum der späteren Nobelpreisträgerin, das Buch, das sie »immer schreiben
wollte, ja musste«795. Die innenpolitischen und gesellschaftlichen Rahmenbedin-
gungen dieser Jahre hatten die Schreibwut der Autorin zweifelsohne beflügelt :
Seit dem Innsbrucker Parteitag 1986, als der junge rechtspopulistische FPÖ-
Politiker Jörg Haider den eher liberalen Parteichef Norbert Steger vom Ob-
mannsessel gestoßen hatte, befand sich die rechts außen stehende, offen frem-
denfeindliche Freiheitliche Partei auf einem scheinbar nicht zu bremsenden
Höhenflug. Mitte der 1990er Jahre dachte Haider bereits laut über eine Kanz-
lerkandidatur nach.
Auf der anderen Seite war Österreich kurz vor der Veröffentlichung von »Die
Kinder der Toten« im August 1995 der Europäischen Union beigetreten. Und : »Wir
wollen das Match auf Europaebene gewinnen !«796 Die unliebsame Vergangenheit
als Teil des faschistischen Deutschen Reichs passte so gar nicht ins Programm der
runderneuerten außenpolitischen Selbstdarstellung Österreichs.797 Dementspre-
chend wurde Jelineks Roman bei Österreichs Auftritt als Schwerpunktland auf der
Frankfurter Buchmesse nicht unbedingt in den Vordergrund der medialen Auf-
merksamkeit gerückt, was durch die schlechte Kritik im Feuilleton gerechtfertigt
793 KDT, S. 446.
794 Jelinek, zitiert nach : Mayer/Koberg, Ein Porträt, S. 200 f.
795 Dies., zitiert nach : Ebd., S. 206.
796 KDT, S. 467.
797 Vgl. Mayer/Koberg, Ein Porträt, S. 206,
240 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319