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Allerdings – und auf diesen wichtigen Punkt weisen die Biografen nicht hin –
spricht Jelinek Haider die Einmaligkeit ab : In »Die Kinder der Toten« negiert
sie die von Seiten der deutschsprachigen Geschichtsforschung längst verwor-
fene Führertheorie, wonach die Führungskompetenz oder das Charisma von
Einzelpersonen als nahezu ausschließliche Ursache für die Entstehung und Eta-
blierung faschistischer Parteien oder Regime gesehen wird ; im öffentlichen Dis-
kurs und der Publizistik wird diese vereinfachende, monokausale Theorie immer
wieder unreflektiert bemüht ; auch Formuliererungen wie »Hitler-Deutschland«,
»Hitler-Regime« oder »Hitler-Krieg« spielen dieser Theorie in die Hände.
Überdies stellt sich Jelinek gegen Ernst Noltes Begriff vom »Epochencharak-
ter« des Faschismus.805 »Der Führer. Man würde ihn mit einer Lampe suchen
gehen, verschwände so einer in Österr. einmal von der Bild-Fläche«, kommen-
tiert die Erzählinstanz in »Die Kinder der Toten« :
»So einen Mann hat dieses Land bereits einmal erbaut (die Pläne hat es sicherheits-
halber aufgehoben), und da der große Aufruhr, den dieses Bauen hervorgebracht hat,
gestillt war, reichte man sie wieder ein, die Pläne, für eine heftige Volksbewegung, für
eine dritte Republik, aus der Tiefe geholt, aber doch etwas von oben herab.«806
Nicht eine Einzelperson habe demnach im Nationalsozialismus die österreichi-
sche Gesellschaft verführt, sondern die Bevölkerung bringe im Umkehrschluss
Verführer dieser Bauart immer wieder hervor, weil sie – vor allem in Zeiten
der »großen Aufruhr« – aus sich heraus danach verlange. Damit wird deutlich,
dass die Autorin eine Konstruktion des Nationalsozialismus als »Mobilisie-
rungs- und Manipulationsprojekt«807 der politischen Eliten für nicht haltbar
erachtet, sondern das NS-Regime – Ergebnissen der neuesten zeithistorischen
Forschung entsprechend – vielmehr als soziale Praxis begreift und darzustellen
sucht, welche die deutsch-österreichische Bevölkerung mitkonstruiert habe und
an welcher sie »in vielfältiger Weise beteiligt«808 gewesen sei.
Auch der »Führer« wird als Schablone begriffen, nach deren Muster ohne
weiteres eine Verdoppelungsfigur angefertigt werden könne – und wenn gewisse
gesellschaftliche Rahmenbedingungen erfüllt seien, werde diese Aufgabe auch
prompt umgesetzt. Dementsprechend wird der Politiker Haider in »Die Kinder
der Toten« als eine von vielen möglichen Doppelgänger-Figuren des »Führers«
vorgeführt (was dem damaligen FPÖ-Parteiobmann nichts von seiner »Unheim-
805 Vgl. Kapitel 1.4.1 dieser Studie.
806 KDT, S. 47.
807 Kritisch dazu Bauer, Mobilisierung, S. 288.
808 Bajohr, Zustimmungsdiktatur, S. 121.
242 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319