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lichkeit« raubte). Dabei musste die Autorin in ihrem Roman »Haider« nicht beim
Namen nennen, um unmissverständlich auf ihn zu verweisen. Jelinek benutzt beim
Schreiben »Umwege«, denn ihr »Erfolg liegt im Umkreisen«809. Allein die Aus-
drücke »Volksbewegung« und »Dritte Republik« in oben zitierter Textpassage sind
deutliche Hinweise auf die Haider-FPÖ der 1990er Jahre, die sich als »Bewegung«
deklarierte und aus der »Zweiten« eine »Dritte Republik« zu formen wünschte.810
In »Die Kinder der Toten« setzen sich die Seitenhiebe auf den »junge[n]
Herr[n] Parteivorsitzende[n]«811 und dessen Partei fort, wenn etwa auf die Vor-
liebe der »Burschen«812 für blaue Accessoires verwiesen wird (»Stahlblaue Schals
wehen wie Schwerter vom Muskelgestrick…«813) oder auf die Ankündigung des
FPÖ-Vorsitzenden, 1998 Bundeskanzler werden zu wollen :
»So, jetzt jagen sie wieder vereint, sie kommen zu sich selbst, in ihrem Willen zur
Macht, aber sie gelangen erst 1997, nein 1998 über sich hinaus, wie sie verkünden, da
werden wir dann persönlich den Zeit und die Raum für sie aufschließen, damit sie wie-
der einen guten Platz in der Geschichte bekommen können.«814
Im anschließenden Satz wird sogleich auf Österreichs Selbststilisierung als
Opfer des Nationalsozialismus verwiesen, mit dem der »gute Platz in der Ge-
schichte« gesichert werden konnte und die im Opfermythos ihren Ausdruck ge-
funden hat : Schließlich habe der Pistolenlauf im Zweiten Weltkrieg »alles von
ganz alleine getan«, und mit wenigen Worten könne man wieder harmlos wer-
den (»… lieber der Schein selber sein, damit man nicht wahr gewesen ist !«815).
Auch auf Haiders berühmt-berüchtigte Ausflüchte für provokante Aussagen,
mit denen er die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs herunterspielte oder die
NS-Zeit glorifizierte816, wird in »Die Kinder der Toten« wiederholt angespielt
(»Wir können nicht einmal uns selbst fassen, wenn unsere Taten einmal vorbei
sind. Dann werden wir damals nicht zu Hause gewesen sein.«817). Natürlich
fehlt auch ein Hinweis auf Haiders umstrittenen Ausspruch von der »ordent-
lichen Beschäftigungspolitik im Dritten Reich«818 in »Die Kinder der Toten«
809 Dickinson, Gedichte, S. 410. Vgl. das lyrische Motto dieser Studie.
810 Vgl. Scheidl, Ein Land auf dem rechten Weg, S. 152.
811 KDT, S. 110.
812 KDT, S. 286.
813 KDT, S. 286.
814 KDT, S. 363.
815 KDT, S. 363.
816 Vgl. dazu Kapitel 3.3.3.2 dieser Studie.
817 KDT, S. 19.
818 KDT, S. 296. 243
»Die Kinder der Toten« |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319