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rik«846 und über den eng abgesteckten Zeitraum der Regierungsbeteiligung der
Haider-FPĂ– in den beginnenden 2000er Jahren hinaus immer noch von groĂźer
(innen-)politischer Brisanz.
Von Seiten der deutschsprachigen Literaturwissenschaft hat sich bislang ein-
zig Bärbel Lücke847 an eine detailliertere Interpretation herangewagt. In dieser
versucht Lücke, einen möglichen Zusammenhang des Texts zu den Machtthe-
orien Nietzsches, Foucaults und Baudrillards herzustellen, wobei ihr deutlicher
Fokus auf dem Foucault’schen Begriff des »Dispositivs« liegt. Interessanterweise
räumt Lücke selbst etwas unsicher ein, dass es tatsächlich »fraglich«848 sei, ob
dieser mit Fug und Recht auf den Text angewendet werden könne.849 Folgt man
LĂĽckes Argumentation, ist derÂ
– ansonsten sehr weit gefassteÂ
– Dispositivbegriff
hier als Machttheorie zu verstehen, welche die Summe von Diskursen und Prak-
tiken zusammenfasst, die die sozialen Beziehungen innerhalb der Gesellschaft
koordinieren. Zu Foucaults thematischem Schwerpunkt gehörte dabei die Ge-
schichte der Sexualität, die um die Fragen einer »Macht von unten« kreiste. Die
Sexualität – selbst kein vorfindliches Objekt, sondern Produkt von Diskursen
und Praktiken – stellte für Foucault den Schlüsselbegriff zur Erklärung der Ge-
schichte des 19. und 20.Â
Jahrhunderts dar.850 Bei LĂĽcke steht die Macht der Ver-
fĂĽhrung im Mittelpunkt des analytischen Interesses, was durchaus auf Jelineks
Text (den Monolog eines politischen VerfĂĽhrers) angewendet werden kann.
Kritisch angemerkt werden soll an dieser Stelle die unreflektierte Ausdrucks-
weise, mit der Lücke von »Hitlers wahnhafter Massenvernichtung der Juden«851
schreibt, mit der die (in der Zeithistorie längst verworfene) »Führertheorie«852
bedient wĂĽrde, was sicher nicht im Sinne der Autorin ist.
DarĂĽber hinaus liegt ein erhellender Aufsatz in englischer Sprache von Al-
lyson Fiddler vor, der vor allem durch seine analytische Strukturiertheit und
seine klare Sprache besticht. Fiddler bettet darin den Primärtext in seine zeit-
historischen Kontexte, benennt die wichtigsten intertextuellen BezĂĽge und
zieht Parallelen zu Jelineks (Kurt Waldheim auf den Leib geschriebenem)
Dramolett »Präsident Abendwind« aus dem Jahr 1986.853 Kritisch angemerkt
werden muss dennoch, dass Jelineks Vater in Fiddlers Text als »half-Jew«854
846 Schmidt-Dengler, zitiert nach : profil, Nr. 42, 2004, S. 128.
847 Lücke, Gespenster, S. 75–129.
848 Ebd., S. 105.
849 Vgl. Lücke, Gespenster, S. 105.
850 Vgl. Daniel, Kulturgeschichte, S. 174 ff.
851 Lücke, Gespenster, S. 104.
852 Vgl. Kapitel 1.4.1 dieser Studie.
853 Vgl. Fiddler, Staging Jörg Haider, S. 357 f.
854 Fiddler, Staging Jörg Haider, S. 353.
248 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319