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die Beschreibung des Sprechers in »Das Lebewohl«. Eine ähnliche Anspie-
lung hatte Jelinek bereits in »Die Kinder der Toten« eingebaut : Auch dort bleckt
ein junger Führer das Gebiss, dessen Zähne »Flammen« sind, die »das etwas
schief geratene Gesichtsfabrikat«896 verbergen sollen.
Die Regieanweisung, dass man für »Das Lebewohl« keine Mädchen nehmen
könne, unterstreicht die Absicht einer rein männlichen Szenerie, in der jede
Weiblichkeit, auch im Sexuellen, entbehrlich ist. Die Entbehrlichkeit geht da-
bei bis zur totalen Eliminierung alles Weiblichen, wie vor allem an folgender
Textpassage erkennbar wird, in der – an der Textoberfläche – auf Haiders La-
mento im News-Artikel über die Abwesenheit seines langjährigen (politischen
und persönlichen) Weggefährten und damaligen FPÖ-Generalsekretärs Peter
Westenthaler während seiner Abschieds-Pressekonferenz hingewiesen wird :
»Der Obmann leider das Knie zum zweiten Mal gebrochen, der Allerbeste, der Erste
der Knaben. Ich nehme ihn an meine Brust, das ist nicht Milch, da bin nur ich Starker,
komm, Knabe, zerbeiß die Brust, bis rote Klumpen bleiben…«897
Die Texttiefenstrukturen jedoch brechen mit dem Urbild von Weiblichkeit, dem
Nähren des Säuglings an der Brust, was hier der »Führer« übernimmt, nicht
ohne zugleich auf Bilder des Kriegs (Blut, Schmerz, Machtkampf) zu verweisen,
denn der Genährte zerbeißt die Brust, die keine Milch gibt, bis Blut kommt :
möglicherweise ein aus der »Orestie« entlehntes (Alp-)Traumbild Klytaimestras
von einem Drachen, den sie zur Welt bringt und der beim Trinken der Mutter-
milch Blut aus der Brust saugt – eine Schreckensvision ihres bevorstehenden
Untergangs.898 An der zitierten Passage aus dem »Lebewohl« können bereits
wesentliche Aussagen des Monologs abgelesen werden, die auf die im theoreti-
schen Teil dieser Studie genannten Charakteristika faschistischer Parteien und
Regime verweisen, denn die Eliminierung des Weiblichen ist im Motivfeld der
patriarchalen, faschistischen Abwertung der Frau zu finden.899
In Hinblick auf den Nationalsozialismus hat sich vor allem Hitlers Kampfruf,
das »Schlachtfeld der Frau« sei der Kreißsaal900, eingeprägt, was den tatsäch-
lichen Lebensrealitäten von Frauen im Nationalsozialismus natürlich nicht
entsprechen konnte. Diese waren weitaus vielschichtiger und ebenso wie alle
anderen Lebensbereiche zwischen 1933/38 und 1945 nach rassistischen Denk-
896 KDT, S. 46.
897 KDT, S. 19.
898 Vgl. Aischylos, Orestie, S. 95.
899 Vgl. Lücke, Gespenster, S. 99.
900 Vgl. Mosse, Der nationalsozialistische Alltag, S. 66.
256 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319