Seite - 263 - in Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek - Eine historiografische Untersuchung
Bild der Seite - 263 -
Text der Seite - 263 -
harmlosung, aber auch zur Verherrlichung des Nationalsozialismus im öffent-
lichen Bewusstsein beitrug. So lehnte Haider jedwede »Kollektivschuld«935 ab
und sprach stattdessen von »Pflichterfüllung«936. Die Konzentrationslager be-
zeichnete er wiederholt als »Straflager«937 – ein Ausdruck, der impliziert, dass
die inhaftierten Frauen, Männer und Kinder aufgrund eines Vergehens dort ge-
wesen wären, obwohl völlig Unbescholtene in KZs deportiert, dort gequält und
ermordet wurden. Soldaten, die zu Partisanen geflüchtet waren, nannte er »Ver-
räter«938. Die Treffen von SS-Veteranen am Ulrichsberg hingegen bezeichnete
er als »Friedenstreffen«939, den Zweiten Weltkrieg als »Kampf für die Freiheit
Europas«940 – um nur einige wenige »Highlights« zu nennen. Den verurteilten
Kriegsverbrecher Walter Reder machte Haider zu einer ehrenwerten Persön-
lichkeit, denn dieser habe schlichtweg »seine Pflicht erfüllt, wie es der Eid des
Soldaten gebietet«941. Dass der aus Österreich stammende SS-Obersturmführer
Reder 1951 in Italien als Hauptverantwortlicher für das Massaker von Marz-
abotto mit mehr als 1.000 Toten zu lebenslanger Haft verurteilt worden war,
beeindruckte den damaligen FPÖ-Chef offenbar wenig. Schließlich hätte das
Schicksal Reders »jeden unserer Väter ereilen können«942. (Dass es ebenso gut
unsere Väter hätten sein können, die erschossen oder ins Gas geschickt wurden,
vergaß Haider zu erwähnen – seine Empathie war einseitig.)
Dieses Beharren auf der eigenen Position findet in »Das Lebewohl« Aus-
druck, etwa wenn der Sprecher über die Toten- und Jammerklagen der Opfer
berichtet, nicht ohne hernach hinzuzufügen :
»… auch beim Jüngsten Gericht : entschuldigen tun wir uns nicht !«943
Dass die Figur die zuvor angesprochenen Verbrechen als »entsetzlich«944 erkannt
hat, wird dadurch als Alibi-Handlung entlarvt. Das knappe Vorbeischiffen an
935 Siehe z. B. Czernin, Der Westentaschen-Haider, S. 17 u. 21 ; auch : Czernin, Wofür ich mich
meinetwegen entschuldige, S. 18.
936 Vgl. Czernin, Wofür ich mich meinetwegen entschuldige, S. 18.
937 Haider, zitiert nach : Czernin, Der Westentaschen-Haider, S. 41 und 63.
938 Ders., zitiert nach : Czernin, Wofür ich mich meinetwegen entschuldige, S. 19.
939 Ders., zitiert nach : Ebd., S. 18.
940 Scharsach, Haiders Kampf, S. 7 f.
941 Haider, zitiert nach : Czernin, Wofür ich mich meinetwegen entschuldige, S. 15.
942 Als Reder 1985 nach Österreich zurückkehrte, begrüßte ihn FPÖ-Verteidigungsminister Fri-
schenschlager mit Handschlag, was Haider mit der Bemerkung goutierte : »Für mich war das
die Übernahme des letzten österreichischen Kriegsgefangenen.« Zitiert nach : Czernin, Wofür
ich mich meinetwegen entschuldige, S. 15. Vgl. dazu auch Scharsach, Haiders Kampf, S. 7 f.
943 LW, S. 28.
944 LW, S. 17. 263
»Das Lebewohl« |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319