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ter-Position vorgenommen wird, ist ein typisches Charakteristikum faschisti-
scher Systeme. Im Nationalsozialismus wurden vor allem Juden und »Bolsche-
wisten« als angebliche Feinde der inneren Sicherheit und des ökonomischen
Gleichgewichts verfolgt und bekämpft. Die zeithistorische Forschung spricht
in diesem Zusammenhang von der »Exklusion«992 Gemeinschaftsfremder. Der
italienische Fascismo unter Benito Mussolini hatte sich die Ausschaltung der
sozialistischen, kommunistischen, liberalen und demokratischen Kräfte zum
Ziel gesetzt. Die im Faschismus sowohl verbal als auch mit Waffengewalt ausge-
tragene Bekämpfung vermeintlicher Feinde diente einerseits der Abschreckung
nach außen sowie andererseits der Festigung des Zusammenhalts nach innen.993
In ihrem Text deckt Jelinek »Krebsgeschwüre eines wuchernden faschisti-
schen Einheits- und Gemeinschaftswillens« auf, so Bärbel Lücke, der »das ver-
einnahmt, was dazugehören soll und das vernichtet, was nicht dazu gehört«994.
Als sehr klarer und eindeutiger Hinweis auf diesen tumorartigen Gemein-
schaftsgeist kann etwa folgende Textstelle herangezogen werden :
»Wir sind alle, und wer noch fehlt, den verrechnen wir nachher miteinander. Mit dem
rechnen wir ab. … Wir sind angefordert von jedem, der da ist : anständig, tüchtig, flei-
ßig. Die vielen zählen nicht mehr, denn wir sind jetzt da. Wir sind alle.«995
Die im Text als rekurrent auffällige Formulierung »Wir sind alle« drückt die
Konfrontation aus zu den »vielen«, die »nicht mehr zählen«, also als Feinde be-
trachtet werden und übergangen oder sogar ausgeschaltet werden sollen. Denn
der unbedingte Wille zur Gemeinschaft bringt die Notwendigkeit mit sich, je-
den, der diese zu Fall bringen könnte, zu eliminieren. Dieses Phänomen konnte
in Realität im Kriegswinter 1942/43 beobachtet werden, als Propagandaminister
Goebbels die kriegsmüde Bevölkerung des Deutschen Reichs (dieses nunmehr
an zwei Fronten verstrickt, von Luftangriffen der Engländer gezeichnet und
unter dem Schock der Katastrophe von Stalingrad) auf den »Totalen Krieg«
einschwor, was eine fanatisierte Menge im Sportpalast mit frenetischem Bei-
fall und »Sieg Heil«-Rufen bejubelte.996 Erschreckenderweise scheint der Zu-
sammenhalt einer Gemeinschaft letzten Endes immer umso stärker zu sein, je
stärker die Abgrenzung gegen die (wie auch immer definierten) »anderen« – in
Jelineks Text »die vielen« – ausgelebt wird.
992 Vgl. Kapitel 1.4.1 dieser Studie.
993 Vgl. Wippermann, Hat es Faschismus überhaupt gegeben, S. 56.
994 Lücke, Gespenster, S. 111.
995 LW, S. 15.
996 Vgl. Studt, Das Dritte Reich in Daten, S. 206 f.
272 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319