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bestimmtes Hier und Jetzt festlegt, denn sie versteht sich selbst als politische
Autorin und nimmt in ihren Texten direkt Bezug auf aktuelle politische Verhält-
nisse, Vorgänge und agierende Personen. »Natürlich versteht man diesen Text
in Österreich besser«1019, räumte sie in einem Interview 2001 ein, gab aber zu
bedenken, dass es ja leider auch außerhalb Österreichs allgemeine Tendenzen der
Rechten gebe, die etwa in Ulrike Ottingers Inszenierung in Berlin aufgegriffen
worden seien. Insofern kann und muss Jelineks Haider-Figur als exemplarisch
verstanden und das Stück als Vorlage für Dramaturgen und Regisseure begriffen
werden, ihre Inszenierungen an jeweils aktuelle Vorgänge und Zustände anzu-
passen. »Man kann es … natürlich auch ganz anders machen«1020, ist bereits in
der Regieanweisung zu »Das Lebewohl« festgehalten. Der Insenzierung bleibt –
wie immer bei Jelineks Theaterstücken – großer Spielraum. Die Erhabenheit des
Stücks über Raum und Zeit bringt Bärbel Lücke folgendermaßen auf den Punkt :
»Es ist… ein echter Bühnenmonolog, bei dem die Probleme von Politik, Macht und
Herrschaft auf der Folie der Theorien des zwanzigsten Jahrhunderts ›verhandelt‹ und
durch sie transparenter werden, so dass das ›kl.‹ Drama aus der Kategorie des ›Zeit-
stücks‹ … herausgehoben wird und auch dann noch dramatische Brisanz und künst-
lerische Aktualität haben wird, wenn vielleicht niemand mehr weiß, wer Jörg Haider
war.«1021
Österreich und den Österreichern wird Jörg Haider zweifelsohne noch eine
Weile in Erinnerung bleiben ; sein aggressiver Rechtspopulismus, seine zwei-
felhaften Darstellungen zur österreichischen Geschichte, aber auch seine Be-
leidigungen internationaler Repräsentanten haben es über die Landesgrenzen
hinaus zu zweifelhafter Berühmtheit gebracht. In »Das Lebewohl« hat Jelinek
viele von ihnen versammelt, neu arrangiert und als Halbwahrheiten, Doppeldeu-
tigkeiten oder Lügen entlarvt. Der Mythos Haider wird in »Das Lebewohl« mit
einfachen Mitteln entzaubert.
Nachkommende Generationen werden die Aufregungen um Jörg Haider und
seine »Burschenpartei« vielleicht kaum noch nachvollziehen können. Inzwi-
schen sorgen aber bereits andere Rechtspopulisten für »gruselige Pointen«1022,
die Elfriede Jelinek vermutlich weiterhin an den Schreibtisch treiben und die
Dramaturgen der deutschsprachigen Bühnen mit stets neuen Aufgaben versor-
gen werden.
1019 Jelinek, zitiert nach : Janke, Nestbeschmutzerin, S. 151.
1020 LW, S. 9.
1021 Lücke, Gespenster, S. 80.
1022 Ebd.
278 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319