Seite - 287 - in Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek - Eine historiografische Untersuchung
Bild der Seite - 287 -
Text der Seite - 287 -
Um in Aufbau und Strukturierung des Texts nĂ€her einzufĂŒhren, wurden in
einem weiteren Schritt die wichtigsten RĂŒckbezĂŒge auf wahrscheinliche PrĂ€-
texte geschildert. Die Grenzen verwischende Darstellung von Leben und Tod,
das zentrale Motiv in »Die Kinder der Toten«, wurde mit Freuds AusfĂŒhrungen
ĂŒber »Das Unheimliche« verglichen. In Referenz auf E. T. A. Hoffmann24 hatte
Freud in seinem Aufsatz aus dem Jahr 1917 herausgearbeitet, dass es vor allem
das DoppelgÀngertum in all seinen Abstufungen und AusprÀgungen sei, das in
der Literatur fĂŒr das Unheimliche stehe, darunter Ich-Verdoppelung, Ich-Tei-
lung, Ich-Vertauschung sowie die Wiederkehr des Immergleichen (Wiederho-
lung der GesichtszĂŒge, Charaktere, Schicksale, der verbrecherischen Taten)25Â â
gestalterische Formen, wie sie in den gezeigten VervielfÀltigungen der untoten
Hauptfiguren in »Die Kinder der Toten« wiederholt vorzufinden sind. Im aller-
höchsten MaĂe unheimlich erscheine vielen Menschen alles, was mit dem Tod,
mit Leichen und mit der Wiederkehr der Toten zusammenhĂ€nge â vermutlich
weil es, allen wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz, immer noch unmög-
lich sei, die eigene Sterblichkeit zu imaginieren.26 Die Entfremdung des Ver-
trauten â in seiner gröĂtmöglichen Steigerung : Das tote Ich â konnte daher als
das eigentliche »Unheimliche« ausgemacht werden.
Die Parallelen zu Leberts »Wolfshaut«-Roman bestehen neben thematischen
und motivischen Relationen vor allem in der Ăbernahme eines polyphonen Er-
zÀhlkonzepts, was als hervorstechendste stilistische Besonderheit des Romans
bezeichnet wurde. Das multiperspektivische ErzÀhlerinnen-Ich in »Die Kinder
der Toten« wurde als »Opfer-TÀter-Kippfigur« bezeichnet, die in ihrer Dar-
stellungsform als Spiegelbild der österreichischen Erinnerungskultur begriffen
werden kann ; diese entwickelte sich seit den 1990er Jahren hin zu einem »Op-
fer-TĂ€ter-GedĂ€chtnis«, wie â auf den theoretischen Teil dieser Studie verwei-
send â festgehalten wurde. DarĂŒber hinaus wurde in diesem Kontext auch auf
Selbstthematisierungen der Autorin aufmerksam gemacht, die auf das familiÀre
Trauma von Verfolgung und Vernichtung jĂŒdischer Familienmitglieder im Na-
tionalsozialismus verweisen sowie auf die von der Autorin selbst als neurotisch
beschriebene Beziehung zu ihrer Mutter.
In einem weiteren Schritt wurden einige der wichtigsten Mythendestruktio-
nen aus »Die Kinder der Toten« exemplarisch zur Analyse ausgewÀhlt. Mit die-
sem textimmanenten Kapitel sollte gezeigt werden, dass der Opfermythos und
sein Fortwirken in der Gegenwart bei Jelinek als ein perfides Geflecht nationaler
Mythen dargestellt sind, welche die unterschwellige, aber stÀndige PrÀsenz und
24 Vor allem dessen Roman »Die Elixiere des Teufels«.
25 Vgl. Freud, Das Unheimliche, S. 246 f.
26 Vgl. ebd., S. 254 f. 287
Zusammenfassung der Ergebnisseâ |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, IntertextualitÀt
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. LektĂŒre- und DeutungsvorschlĂ€ge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten SekundÀrliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die ErzÀhlinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die groĂe Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂŒmee 279
- 5. Epilog â Wir warenâs nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319