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In diesem Zusammenhang ist allerdings die nicht immer selbstverständliche
Feststellung zu treffen, dass mit dem hier angesprochenen Kontextwissen nicht
allein das so genannte »Tatsachenwissen« im Sinne einer »histoire totale« ge-
meint ist, sondern auch diskursanalytisches Wissen : Wenn Texte im Zuge einer
literaturwissenschaftlichen Interpretation in Zusammenhang mit ihren histori-
schen Kontexten gebracht werden, so wird automatisch auch auf deren Diskur-
sebene Bezug genommen, in der sich die konzeptuelle Vielfalt und Wandelbar-
keit historischer Methoden und Bewertungen widerspiegelt. Es gilt dabei, sich
dieser Ebene bewusst zu sein, um sie auf konstruktive und sinnvolle Art und
Weise in die angestrebte Interpretation integrieren zu können.
In Hinblick auf den geschichtswissenschaftlichen Diskurs muss etwa dar-
auf verwiesen werden, dass sich seit den 1980er Jahren durch die zunehmende
Kritik an den strukturgeschichtlich dominierten Zugängen in mehreren Ent-
wicklungsschüben (»Turns«) eine Revolutionierung der historischen Diszi-
plinen vollzogen hat35, was im Rahmen der vorliegenden Untersuchung vor
allem anhand der Paradigmenwechsel in der Faschismus- und Nationalso-
zialismusforschung herausgearbeitet wurde.36 Die Kritik an der strukturge-
schichtlichen Dominanz hatte innerhalb der Geschichtswissenschaften dazu
gefĂĽhrt, dass neue Perspektiven ausgelotet, neue Themen und Methoden vorge-
schlagen, scheinbar altbekannte Begriffe neu diskutiert und nationalhistorisch
eingeschränkte Blickwinkel von wissenschaftlichen Globalisierungstendenzen
abgelöst wurden.37 Darüber hinaus hatte sie letzten Endes zu einer verstärk-
ten Beschäftigung mit dem Einzelnen und seinen jeweiligen »Lebenswelten«38
gefĂĽhrt, aber auch das Interesse an symbolischen Formen und Ritualen und
deren Bedeutungen und Eigen-Logiken befördert.39 Die Vorstellung einer
Geschichte im Kollektivsingular – gedacht als »einheitlicher, zusammenhän-
gender, zukunftsoffener Entwicklungsprozess«40 – wurde von dem Verständnis
historischer Realitäten als diskursiver Konstruktionen abgelöst : Geschichte ist
nicht das, was passiert ist, sondern das, was wir erinnern, wie wir es erinnern und
wie wir ĂĽber das Erinnerte sprechen, im individuellen wie auch im kollektiven
Gedächtnis.41
35 Vgl. Eibach/Lottes, Kompass, S. 7.
36 Vgl. Kapitel 1.4.1 und Kapitel 1.4.2 dieser Studie.
37 Vgl. Eibach/Lottes, Kompass, S. 7.
38 Zu dem historischen Begriff der »Lebenswelt(en)« vgl. Kapitel 1.4.2 dieser Studie.
39 Vgl. Burghartz, Historische Anthropologie, S. 206.
40 Welskopp, Historische Erkenntnis, S. 128.
41 Vgl. Burghartz, Historische Anthropologie, S. 208. Vgl. auch Uhl, Zivilisationsbruch und Ge-
dächtniskultur, S. 11.
292 | ResĂĽmee
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319