Seite - 11 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
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11Ein
neuer Blick auf die Populärkultur
An der Wende zum 20. Jahrhundert ist jenes kom-
plexe Phänomen entstanden, das wir als fotografische
Öffentlichkeit bezeichnen können. Damit ist gemeint,
dass die massenhaft reproduzierte Fotografie in Zei-
tungen und Zeitschriften eine ganz eigene, visuell
geprägte Wirklichkeit schafft. Gesellschaftliche Er-
eignisse finden im 20. Jahrhundert nicht mehr nur in
der Wirklichkeit statt, sie werden zunehmend auch in
visueller Form festgehalten. Pressefotografen, die bei
wichtigen Anlässen die politischen Protagonisten re-
gelrecht umlagern, liefern das Rohmaterial für diese
zweite, mediale Wirklichkeit (Abb. 1).
Ein neuer Blick auf die Populärkultur
Das vorliegende Buch untersucht am Beispiel
Österreichs die Geschichte der Pressefotografie von
ihren Anfängen in den 1890er Jahren bis zur Mitte
des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum der Untersuchung
stehen die Wechselwirkungen zwischen Medien, Po-
litik und Gesellschaft und die Herausbildung einer
spezifischen fotografischen Öffentlichkeit. Wir wer-
den sehen, wie um die Jahrhundertwende neben dem
bekannten und relativ gut untersuchten Nachrichten-
wesen der Hochkultur (das seinen Niederschlag etwa
in den bürgerlichen Tageszeitungen findet) ein neues,
bisher wenig beachtetes, massenkulturelles System
fotografischer Berichterstattung entsteht. Ihr Kenn-
zeichen ist neben der Übermittlung von Nachrichten
die Darstellung und Verbreitung von Sensationen.
Die frühe fotografisch illustrierte Presse gleicht
in ihrer Struktur, in ihren thematischen Zugängen
und in ihrer voyeuristischen Grundhaltung stärker
dem populären Boulevard als den bürgerlichen Nach-
richtenblättern. Um 1900 wird in den Illustrierten
ausgiebig über die Sensationen und Attraktionen
des Alltags und der Gesellschaft berichtet: über Un-
glücksfälle und Katastrophen, spektakuläre Morde
und Raubüberfälle, Festlichkeiten und Sehenswür-
digkeiten, große und kleine Persönlichkeiten des
öffentlichen Lebens, über Bühnenstars, Sportler und
vieles andere mehr. Themen und Ereignisse also, die
auch beliebte Themen der Boulevardtagespresse sind.
Die Pressefotografie um 1900 ist also vornehm-
lich ein Unterhaltungs- und erst in zweiter Linie ein Nachrichtenmedium. Es gibt eine Reihe von Paralle-
len zum frühen Kino. „Es ist kein Zufall“, schreibt
Kurt Korff, der in den 1920er Jahren Chefredakteur
der größten deutschen Wochenillustrierten ist, „daß
die Entwicklung des Kinos und die Entwicklung der
‚Berliner Illustrirten Zeitung‘ ziemlich parallel laufen.
Mehr und mehr gewöhnte sich das Publikum, die Er-
eignisse der Welt stärker durch das Bild auf sich wir-
ken zu lassen als durch die Nachricht.“3 Tatsächlich
entsteht die auflagenstarke, fotografisch illustrierte
Massenpresse etwa zur selben Zeit wie das Kino, das
sich in seinen frühen Jahren ebenfalls der Welt der
Attraktionen zuwendet.4
Erst nach und nach weitet sich das Feld der Be-
richterstattung aus. An die Seite der Sensationen tritt
allmählich die Nachrichtenfotografie, die sich mit den
aktuellen politischen Ereignissen ebenso beschäftigt
wie mit den jüngsten Schlagzeilen aus Kultur, Sport
und Gesellschaft. Zunehmend stellt die illustrierte
Presse auch eine neue Bühne für die Inszenierung
der „großen“ Politik dar. Sie verbreitet massenhaft
vervielfältigte fotografische Bilder vom politischen
Geschehen und dessen Akteuren: dem Kaiser, sei-
ner Familie und seinen Reisen, bekannten Politikern
und Personen des öffentlichen Lebens, aber auch von
Massenereignissen wie Streiks und Demonstrationen.
Wenn man sich mit der Geschichte der Pressefoto-
grafie beschäftigt, bewegt man sich also zwangsläu-
fig im breiten Feld der Populärkultur. Das ist einer
der Gründe, weshalb es nur sehr wenige fundierte
Studien zur Entstehungsgeschichte des Massenme-
diums Zeitungsfotografie gibt.5 Bis heute gilt die
Pressefotografie als eher „niedrige“ Gattung der
Fotografie. Nicht nur Fotografiemuseen und Kunst-
kuratoren, die sich vornehmlich mit fotografischen
Einzelbildern und Originalabzügen beschäftigen, ist
das massenhaft reproduzierte fotografische Bild, wie
es in Zeitungen auftaucht, oft suspekt. Aber auch die
Themen der frühen illustrierten Presse, die Vorliebe
des Boulevards für Berichte über Unglücksfälle, Kata-
strophen, Mord- und Totschlag galten lange Zeit einer
vornehmlich an der Hochkultur interessierten Kultur-
geschichte als anrüchig. Dass dieses Misstrauen ge-
genüber der Populärkultur6 keine neue Entwicklung
ist und weit in die Geschichte zurückreicht, zeigt sich Abb. 1 Massenandrang der
Pressefotografen beim Besuch
des französischen Ministerprä-
sidenten Pierre Laval und des
Außenministers Aristide Briand
in
Berlin, Ende September
1931. Das interessante Blatt,
1.
Oktober 1931, S.
17. Foto:
Fotoagentur
Wide
World
Photos.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang