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12 Neue illustrierte Welt · Einleitung
allein daran, dass illustrierte Zeitungen in vielen Bi-
bliotheken als nicht archivierungswürdig angesehen
wurden. Das interessante Blatt, die größte und aufla-
genstärkste Wochenillustrierte der k. u. k. Monarchie
und der Ersten Republik etwa, ist in Österreich in nur
fünf Bibliotheken erhalten, in Deutschland gar nur in
einer einzigen – und dies, obwohl ihre Leserschaft bei
Weitem größer war als die einer durchschnittlichen
bildungsbürgerlichen Tageszeitung, die in jedem grö-
ßeren Stadtarchiv aufbewahrt wird.
Ich möchte in diesem Buch zeigen, dass gerade
dieser populäre Strang der fotografischen Berichter-
stattung, der sich freilich auf vielfältige Weise mit
den Äußerungsformen der Hochkultur verbindet, ein
äußerst spannendes Gebiet für eine aufmerksame,
neugierige, an Bildern orientierte Gesellschafts- und
Kulturgeschichte ist.7 Denn auf den Seiten der illus-
trierten Presse, die sich (fast) immer an ein großes
Publikum wendet, treten manche gesellschaftlichen
Brüche und manche Verschiebungen der kollekti-
ven Wahrnehmung viel deutlicher hervor als in der
Hochkultur. So lassen sich etwa die Veränderungen
in den Rollenbildern der Geschlechter entlang der
Bildberichterstattung anschaulicher dokumentieren
als anhand reiner Textmedien (Abb. 2). Ähnliches gilt
für den Sport, die Starkultur, die Mode oder die Wer-
bung, allesamt Themen, die in der illustrierten Presse
besonders deutliche Spuren hinterlassen haben.
Doch die Pressefotografie ist kein simples Fens-
ter zur Wirklichkeit. „Die“ Geschichte bildet sich
also nicht unmittelbar in den Pressebildern ab. Es wäre naiv zu behaupten, dass die Pressefotografie
die historische Wirklichkeit auf authentische Weise
dokumentiert und wiedergibt. Der Begriff des „Au-
thentischen“, der die dokumentarische Fotografie oft
begleitet, ist, auch das wird zu zeigen sein, ein histo-
risch gewachsener Begriff. Die ersten in der Presse
gedruckten Zeitungsbilder gelten vor und um 1900
im Vergleich zu den sehr viel lebendigeren Presse-
zeichnungen (Abb. 3) keineswegs als authentischer.
Erst nach und nach werden die Vorzüge der Fotogra-
fie gegenüber der Zeichnung betont. Letztere erlebt
nach 1900 als Nachrichtenmedium einen rapiden Be-
deutungsverlust. Parallel dazu etabliert sich in den
ersten Jahren des 20. Jahrhunderts die Fotografie als
wirklichkeitsnahes, „authentisches“ Nachrichtenme-
dium.8
Die Wechselwirkungen zwischen historischen Er-
eignissen und fotografischen Bildern in der Zeitung
sind weitaus komplexer und vielfältiger, als es auf
den ersten Blick scheint. Was wann und in welcher
Form in den Zeitungen auftaucht, ist das Ergebnis
zahlreicher Auswahl- und Filterungsprozesse. Der Fo-
tograf, der das Pressefoto aufnimmt, ist nur einer der
Agenten dieses vielschichtigen Zusammenwirkens.
Ebenso wichtig ist der institutionelle Apparat der Zei-
tung selber. Relevant sind hier die Eigentümerstruk-
tur, das ökonomische Kalkül, mit dem das Blatt ope-
riert, die Entscheidungen der Text- und Bildredaktion,
die technischen Möglichkeiten des Drucks, aber auch
Art und Umfang des Vertriebs (vom Abonnement bis
zum Straßenverkauf). Wichtig für die Reichweite, Be-
deutung und Rezeption von Zeitungsfotografien ist
zudem das politische, gesellschaftliche und kulturelle
Umfeld, in dem das Medium erscheint, aber auch die
Form und Präsenz der Konkurrenzmedien.
Als beispielsweise in den 1920er Jahren das Kino
zum konkurrierenden großen Bildmassenmedium
wird und der Film bedeutende Fortschritte in der
visuellen Erzähltechnik macht, reagiert auch die il-
lustrierte Presse auf diese Entwicklungen. Die Her-
ausbildung der modernen Fotoreportage ab Mitte
der 1920er Jahre, die Bilder auf erzählerische Weise
zu Serien verbindet, hat auch, wenn auch nicht aus-
schließlich, mit der medialen Konkurrenz und der
Herausforderung durch das Kino zu tun.
Abb. 2 Die bekannte Wiener
Schauspielerin Helene Odilon
bei einer Automobil-Spazier-
fahrt in der Umgebung von
Berlin. Das interessante Blatt,
28.
Mai 1903, S.
5.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang