Seite - 52 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
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52 Fotos statt Zeichnungen · Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit
alten vorfotografischen und der neuen fotografischen
Zeit. Wenige Jahre später hat sich die Fotografie in
ihrer neuen Rolle als Medium der Berichterstattung
bereits voll etabliert. Als Ende November 1899 eine
Lokomotive der Wiener Stadtbahn entgleist und in
einen Abgrund stürzt, berichtet Das interessante
Blatt wieder in großer Aufmachung über das Unglück
(Abb. 2).2 Wieder sind neben den schreibenden Jour-
nalisten Fotografen vor Ort. Diesmal aber wird die
Szene für die Veröffentlichung nicht mehr von einem
Zeichner umgearbeitet. Das Foto selbst wird – in Form
einer Autotypie – veröffentlicht. Die fotografische Auf-
nahme stammt von Emil Fukarek, einem der Pioniere
unter den Wiener Pressefotografen.
Die fotografische Öffentlichkeit entsteht
Um 1900 setzt sich also eine neue Form von Öf-
fentlichkeit durch, die wir als fotografische Öffent-
lichkeit bezeichnen können. Große politische und
gesellschaftliche Ereignisse, Protagonisten des öf-
fentlichen Lebens, aber auch Sensationen des Alltags
finden nun in Form von Fotografien Eingang in die
Presse und erreichen damit ein neues Massenpubli-
kum. Politiker, Theaterstars, aber auch Ganoven und
Verbrecher tauchen in der illustrierten Presse aus der
bildlichen Anonymität auf.
Gewiss: Ansätze zur massenmedialen Vervielfäl-
tigung der Fotografie hat es bereits vorher, etwa in
Form des Holzstiches, gegeben, dem oft fotografische Vorlagen zugrunde lagen. Neben den Holzstich, auch
Fotoxylografie genannt, wird in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts eine Reihe weiterer fotomechani-
scher Drucktechniken verwendet, etwa die Fotozinko-
grafie, die Fotolithografie, die Fotogalvanografie oder
der Lichtdruck.3 Nur wenige dieser Techniken finden
allerdings Eingang in die Produktion auflagenstarker
populärer illustrierter Zeitungen und Zeitschriften.4
Erst in Form der Autotypie erlangt die massenme-
dial gedruckte Fotografie in der illustrierten Presse
den endgültigen Durchbruch. Das Verfahren besteht
darin, dass ein gerastertes Negativ auf eine lichtemp-
findliche Zinkplatte kopiert und geätzt wird. Diese au-
totypische Platte ist nun beliebig mit Schriftblöcken
kombinierbar.5 Diese Drucktechnik, die in Wien seit
Anfang 1883 bekannt ist, setzt sich in der illustrier-
ten Massenpresse allerdings erst einige Jahre später
durch. 1888 tauchen im Interessanten Blatt die ersten
Autotypien auf, Mitte der 1890er Jahre wird die Au-
totypie in der illustrierten Wochenpresse regelmäßig
verwendet.
Die Ablösung der Zeichnung durch die Fotografie
zieht sich über einen längeren Zeitraum hin, beide
Medien existieren also eine Zeit lang nebeneinander.
Immer wieder werden Fotografien in Form von run-
den „Einblendungen“ in die Zeichnungen integriert.
Oft kommt dabei der Fotografie die Aufgabe zu, De-
tailinformationen (etwa Porträts) zu liefern, während
der Zeichnung die dramaturgische Zuspitzung anver-
traut wird. Aber auch die umgekehrte Medienkombi-
Abb. 2 Eisenbahnunfall in
Wien:
Durch ein
Bremsversa-
gen
durchbricht die Lokomotive
die abschließende Barriere
eines Stumpfgleises und stürzt
auf die Gunoldstraße in
Heiligenstadt. Das interessante
Blatt, 1.
Dezember 1899, S.
5.
Foto: Emil Fukarek.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang