Seite - 58 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Bild der Seite - 58 -
Text der Seite - 58 -
58 Fotos statt Zeichnungen · Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit
spielsweise eine dieser mit Zeichnungen illustrierten
Kürzestmeldungen (Abb. 7). Die Szene ist dramatisch
überhöht, aber ohne weiteren Kommentar. Bildliche
Faits divers können belanglose Skurrilitäten aufgrei-
fen. Nicht selten aber machen sie auf subtile Weise
auch gesellschaftliche Probleme zum Thema. Eine
Bildgeschichte mit dem lapidaren Titel „Mit einer
Lampe getötet“ zeigt eine Frau, die ihren an einem
Gasthaustisch Karten spielenden Mann mit einer
Lampe attackiert (Abb. 8). Ein anderer Mann will
sie von ihrer Tat abhalten. Auch diese Bildgeschich-
te ist dramaturgisch zugespitzt. Sie thematisiert ein
scheinbar singuläres Ereignis (Frau attackiert Mann
mit Lampe), zugleich aber verpackt sie einen viel-
schichtigen Konflikt (Mann – Frau, privater Raum –
öffentlicher Raum, Geldgewinn – Geldverschwendung
etc.) in ein einprägsames Bild.
Vermischte Meldungen wie diese sind Ende des
19. Jahrhunderts in der Presse weitverbreitet, sie zir-
kulieren in Form von Kürzestnachrichten oder als
Bildgeschichten. Die illustrierte Presse ist eine ide-
ale Plattform für diese Form der Berichterstattung.
Die Bildvorlagen stammen nicht selten aus dem Aus-
land und werden von den Redaktionen zugekauft. Die
Geschichten müssen nicht notwendigerweise aktuell
sein, lassen sich also jederzeit veröffentlichen. Die
Themen sind für ein breites Publikum attraktiv, sie
befriedigen die Lust auf Sensationen ebenso wie das Bedürfnis nach unerwarteten, „unmöglichen“ Lösun-
gen in gesellschaftlichen Konfliktsituationen.
Bemerkenswert ist nun, dass die Zeichnung,
die von der Fotografie als glaubwürdiges Nachrichten-
medium abgelöst wird, zum beliebten Illustrationsme-
dium für die Rubrik Faits divers wird. Diese Entwick-
lung deutet ihren Bedeutungsverlust an. Denn die
vermischten Meldungen stehen in der Hierarchie der
Nachrichten ziemlich weit unten. Zugleich aber sind
sie populär und werden viel gelesen. Die Zeichnung,
die lange Zeit in der Bildberichterstattung durchaus
als authentisch galt, verliert nun einen Großteil ihres
Kredits als „wahres“ Bildmedium. In den Faits divers
kommt sie in einer Rubrik zum Einsatz, die zwischen
Nachricht und Gerücht, zwischen wahr und falsch
changiert.
Der Verdrängungsprozess der Zeichnung erfolgt
je nach Medium sehr unterschiedlich. Während sich
die Zeichnung in den konventionell aufgemachten Fa-
milienzeitschriften, die weniger Wert auf Aktualität
legen, länger halten kann, verschwindet sie bei den
illustrierten Nachrichtenzeitungen sehr viel schnel-
ler aus den vorderen Seiten.30 Dieser Prozess verläuft
auch in einzelnen Ländern unterschiedlich schnell.
Während sich in den angelsächsischen Ländern und
auch in Frankreich die Fotoberichterstattung früh
durchsetzt, zieht sich in Mitteleuropa – und damit
auch in Österreich – der Konkurrenzkampf zwischen
Zeichnung und Fotografie länger hin. Einen ent-
scheidenden Anstoß zur endgültigen Verdrängung
der Zeichnung leistet die Einführung des Kupfertief-
drucks kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Diese neue
Drucktechnik stärkt die Fotografie als authentische-
res Medium gegenüber der Zeichnung noch einmal.
Die gedruckten Fotos in der Zeitung erscheinen nun
plastischer und tiefenschärfer. Die im Kupfertief-
druck hergestellten Bilder sind, so schwärmen die
Wiener Bilder kurz nach der Einführung der neuen
Technik, den fotografischen Originalen, die ihnen zu-
grunde liegen, „weit ähnlicher als bisher, ja, wir kön-
nen ruhig sagen, daß sie diesen Originalen in jeder
Beziehung gleichkommen.“31 Spätestens Anfang der
1920er Jahre hat die Fotografie die Zeichnung voll-
ständig abgelöst, auch die gezeichneten Faits divers
gehören nun der Vergangenheit an.
Abb. 8 „Mit einer Lampe ge-
tötet“, Wiener Bilder, 27.
August
1899, S.
8.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang