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60 Bild und Text · Die Rhetorik der Zeitungsseiten
größten Genugtuung erfüllen, dass immerhin eine
so stattliche Korona von nahezu 150 unserer hervor-
ragenden Publizisten die kollegiale Gastfreundschaft
unseres Blattes zu würdigen, nicht verschmähten.“3
So schreibt Schneider in etwas geblähtem Deutsch
zum Bild. Eine einzige Frau hat sich in diese Män-
nerdomäne verirrt – Marie Eugenie Delle Grazie,
die regelmäßig in der Neuen Freien Presse publiziert
(links oben, Nr. 30). Schneider überlässt die Anord-
nung beileibe nicht dem Zufall, geschickt und mit
subtilen Bedeutungen versehen, verteilt er die Plätze
in der Arena. Im Zentrum des Bildes, links neben der
Statue des Dichters Franz Grillparzer, die genau im
Mittelfalz positioniert ist, platziert er den in diesen
Jahren wohl einflussreichsten Journalisten Wiens,
Moriz Benedikt. Er ist Herausgeber und Chefredak-
teur der Neuen Freien Presse, des führenden liberalen
Blattes des Landes. Herausgehoben ist die Figur Be-
nedikts auch dadurch, dass dieser – als Einziger im
Bild – im Ganzkörperporträt und nicht nur in Form
eines Brustbildes erscheint. Auf ebendieses Bild Be-
nedikts greift wenige Jahre später Karl Kraus zurück
und verdichtet es – wiederum in einer Montage – in
der Fackel zu einer ganz anders gewichteten Sze-
ne (Abb. 2).4 Während Benedikt in der Zeitung als
herausragende Figur innerhalb eines Gruppenbildes posiert, ist er bei Kraus freigestellt und allein zu
sehen. Nicht wie bei Schneider innerhalb des Par-
laments, sondern außerhalb.5 Kraus bezeichnet ihn
als „Sieger“. Damit deutet er an, dass der eigentliche
Sieger der letzten Parlamentswahlen (der Reichsrats-
wahlen 1911, die am 20. Juni endeten) nicht die par-
lamentarische Demokratie ist, sondern die unselige
Allianz zwischen liberaler Presse – verkörpert in der
Figur des Herausgebers der Neuen Freien Presse – und
Regierung. Mittels der Montage legt Kraus offen, was
in der Wirklichkeit der Fall ist.
Ein sprechendes Bild
Die Redaktion der Neuen Freien Presse ist im
montierten Gruppenbild Siegmund Schneiders auf-
fallend gut vertreten. Die Redakteure dieser Zeitung
gruppieren sich, gut sichtbar, im Mittelteil des Bil-
des. Aber auch andere Vertreter der konservativen,
liberalen und deutschnationalen Presse nehmen im
Gruppenbild gute Plätze ein. Die nicht deutschspra-
chigen Wiener Journalisten fehlen dagegen fast voll-
ständig. Ebenso die Vertreter der großen illustrierten
Wochenblätter, die unmittelbaren Konkurrenten von
Österreichs Illustrierter Zeitung, etwa Das interessante
Blatt und die Wiener Bilder.
Abb. 1 „Die österreichische
Publizistik“.
„Photokomposition“
von Siegmund Schneider.
Österreichs Illustrierte Zeitung,
2.
Dezember 1908,
o.
S.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang