Seite - 69 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
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69Auf
dem Weg zur Fotoreportage
in der Nähe der Bilder platziert. Auf diese Weise ent-
fällt die Notwendigkeit, Aufnahmen und Bildtexte zu
nummerieren. „In unseren Illustrationen“, so heißt es
zu dieser Seite, „bringen wir nach photographischen
Aufnahmen ein Bild von den Arbeiten in dem Tunnel-
bau für den Sammelcanal, bei welchen Arbeiten sich
insbesondere ein Mineur, Fredl, besonders auszeich-
nete und sich große Verdienste um die Durchführung
der Arbeiten dadurch erwarb, daß er die anderen Ar-
beiter durch eigenen Fleiß aneiferte.“18
Ganz anders die Gestaltung der zweiten Seite (vgl.
Abb. 11). Die beiden Fotos werden mit einfachsten ge-
stalterischen Mitteln in die Textseite eingepasst. Auch
diesmal nimmt der Text auf die Fotos Bezug: „In un-
serer Illustration geben wir noch ein Bild von den
Arbeiten in der Dominikanerbastei selbst, wo theil-
weise mit offenem Aushub gearbeitet wurde. Dort galt
es insbesondere, die Stadtmauern zu durchbrechen,
und da man anfänglich Dynamit zu verwenden nicht
berechtigt war, weil die Behörden ein diesbezügliches
Gesuch abschlägig beschieden, gestaltete sich die Ar-
beit außerordentlich schwierig.“19
„Außerdem bringen wir in unserer Illustration ein
Bild aus der Küche, in welcher die Arbeiter sich parti-
enweise verköstigen. Vom Standpunkte der Arbeiter
ist dieses System nur zu empfehlen, weil es densel-
ben möglich macht, für die schwere und anstrengen-
de Arbeit sich ohne viel Zeitverlust und verhältnis-
mäßig billig zu verköstigen, allein vom Standpunkte
der schwer belasteten Steuerträger, der Gastwirte und
Schänker, wird gegen die Cantinenwirtschaft bei den
Bauten lebhafter Protest erhoben, weil den Wirten ein
zahlkräftiges und konsumfähiges Publicum entzogen
wird, und die Zeiten solche sind, daß jeder Kreuzer
Minderverdienst in die Wagschale fällt. Die Arbeiter
bei dem Bau des Sammelcanals haben nun nicht das
reine Cantinensystem angewendet, sondern sie las-
sen sich von einer aufgenommen Frau partienweise
kochen und haben so eine Art Collectivwirtschaft, die
ihnen sehr billig kommt.“20
Wir haben bereits gesehen, dass um 1900 nur die
reinen Bildseiten breitere Möglichkeiten der Bild-
gestaltung bieten. Denn für diese werden getrennte
Druckvorlagen hergestellt. Sie ermöglichen es, zu
experimentieren. Ein moderner Einsatz von Bilder- zählungen ist hier in den Grundzügen bereits aus-
gereift. Solche reinen Bildseiten werden allerdings
relativ selten eingesetzt. Die klassischen, grafisch
wenig innovativen Text-Bild-Seiten bleiben die Regel.
Diese entwickeln sich in gestalterischer Hinsicht nur
zögernd weiter. Bis weit in die Zwischenkriegszeit
hinein herrscht hier das Diktat der Spalten.
Wieso ist das so? Warum setzt sich die Fotoreporta-
ge nicht bereits vor dem Ersten Weltkrieg in breitem
Stil durch? Der Grund liegt darin, dass über Erfolg
oder Misserfolg einer gestalterischen Idee weit mehr
entscheidet als die technische oder grafische Mach-
barkeit. Die wirtschaftliche Basis des Unternehmens,
die Auflagenentwicklung und die Art der Leserschaft
sind ebenso entscheidend für die Weiterentwicklung
des grafischen Konzepts. Die österreichische illus-
trierte Presse vor dem Ersten Weltkrieg ist durch
eine schwach ausgeprägte Wettbewerbssituation ge-
kennzeichnet. Der ökonomische Druck in Richtung
Innovation ist gering. Eigentümer und Redakteure
der Zeitungen scheuen vor allzu viel Innovation und
radikalen grafischen Einschnitten zurück.
Aber nicht nur in Österreich, auch in anderen
Ländern setzt sich vor dem Ersten Weltkrieg die Fo-
toreportage nicht wirklich durch. Ebenso wie der Fo-
todruck als „authentischeres“ Bildmedium erst Jahre
nach seiner technischen Einführung allgemein im Ge-
brauch ist, liegt auch bei der Fotoreportage eine große
Zeitspanne zwischen Konzept und breiter Umsetzung.
Erst Ende der 1920er geht ein Modernisierungsschub
durch die illustrierte Presse. Nun treten die ersten
professionellen Fotoredakteure auf, erstmals bieten
ausgewählte Fotografen und Fotoagenturen nicht
mehr nur Einzelbilder an, sondern verkaufen ganze
Bildgeschichten – Fotoreportagen eben.21 Unter dem
Druck konkurrierender innovativerer Medien und
unter dem popularisierten Eindruck der Avantgar-
dekultur entschließen sich auch die bürgerlichen
Zeitungen zu Reformen. Die „Erfindung“ der Fotore-
portage Ende der 1920er Jahre, die oft als wichtige
Zäsur gedeutet wird, ist in Wirklichkeit das Ergebnis
einer nachholenden Modernisierung. Gerne wird ver-
gessen, dass die gestalterischen Zutaten eines erzäh-
lenden Umgangs mit Fotografie schon lange vor dem
Ersten Weltkrieg entwickelt wurden.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang