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80 Im Rampenlicht · Der Kaiser im Blick der Fotografen
nerhalb weniger Jahre wandelt sich der Monarch vom
zurückhaltenden, in statischen Posen fixierten Herr-
scher zur allzeit präsenten, öffentlichen Figur. Erst
unter dem Einfluss der massenhaft in der Zeitung
gedruckten Fotografie wird der Kaiser allmählich zu
jenem Monarchen, den wir kennen, zum „volksna-
hen“ Souverän. Dieser Prozess der Umgestaltung des
Kaiserimages wird von den neuen illustrierten Me-
dien ebenso angestoßen wie vom Kaiser selbst, der
ein zunehmendes Interesse an einer Inszenierung als
populärer Souverän entwickelt. Die fotografische Be-
richterstattung erscheint ihm nun als geeignetes Ins-
trument, um sich als aktiver, um die Nähe zum Volk
bemühter Herrscher in der Öffentlichkeit zu zeigen.
Als der Kaiser im Juni 1895 an der alljährlich
stattfindenden Fronleichnamsprozession durch die
Wiener Innenstadt teilnimmt, sind erstmals etliche
Fotografen unter den Zaungästen, die im Auftrag der
Presse arbeiten. Wenige Tage später erscheint eines
dieser Bilder im Interessanten Blatt, der auflagen-
stärksten Illustrierten der Monarchie.6 Die Aufnah-
me, die den Prozessionsszug am Graben zeigt, ist
eines der ersten Pressefotos des Kaisers. Es stammt
von einem Mitarbeiter der k. u. k. Hof-Buchhandlung
R. Lechner (Wilh. Müller). Der Anlass der Aufnahme
ist gut gewählt: Der Fronleichnamsumzug ist, neben
seiner religiösen Bedeutung, ein gesellschaftliches
und politisches Großereignis. Er ist ein öffentlich-
keitswirksames Defilee vor allem des Adels und des
Hofstaates: eine machtvolle Kundgebung des inners-
ten Kreises der Monarchie. Im Zentrum der Fotogra-
fie ist der Kaiser zu erkennen, hinter ihm der Zug
der Prominenten. Im Hintergrund der Aufnahme fällt
der Blick auf ein Holzgerüst mit Werbeanzeigen. Eine
sticht besonders hervor. Es ist die Annonce des Inter-
essanten Blattes. Es ist ein geschickter Schachzug, den
Kaiser in bisher unbekannten Außenaufnahmen zu
porträtieren und zugleich die Zeitung selbst visuell
ins Spiel zu bringen.
Als am 6. Mai 1898 anlässlich des 50-jährigen
Regierungsjubiläums des Kaisers eine große „Jubi-
läumsausstellung“ im Wiener Prater eröffnet wird,
ist Franz Joseph von Fotografen umlagert, die für die
illustrierte Presse arbeiten. Angetreten sind neben
den traditionellen Atelierfotografen, wie etwa Rudolf Krziwanek, die unter dem Druck der Konkurrenz nun
auch ins Freie gehen, junge, wendige Lichtbildner mit
mobilen Apparaten. Unter ihnen sind Emil Fukarek,
das Fotografenduo Heydenhaus & Robert und Viktor
Angerer, der den Kaiser in den folgenden Jahren be-
sonders häufig fotografiert. Bald stoßen zu diesen
Fotografen weitere Lichtbildner hinzu, die ebenfalls
gelegentlich den Kaiser, das Kaiserhaus oder die hohe
aristokratische Gesellschaft fotografieren. Unter ih-
nen sind Heinrich Schuhmann sen., Charles Scolik
sen. und Carl Seebald. Einige von ihnen, etwa An-
ton Huber, Josef Jahudka, Franz Pawlik oder Ruda
Bruner-Dvorˇák, der aus Prag berichtete, haben ihre
Karriere als Militärfotografen im Umfeld des Kaiser-
hauses begonnen. Allmählich dehnen sie ihre „Zu-
ständigkeit“ aus und begnügen sich nicht mehr mit
Manöverbildern.
Wie sehr sich die neuen, „journalistischen“ Kaiser-
bilder von den starren, herkömmlichen Posen unter-
scheiden, zeigt sich an einer Aufnahme, die im Juni
1900 im Interessanten Blatt erscheint.7 Sie zeigt den
Besuch des Kaisers im Kaiser Franz Joseph-Ambu-
latorium in Wien, das in der Sandwirtgasse 3 – 5 im
6. Wiener Gemeindebezirk untergebracht ist (Abb. 5).
Das Foto stammt vom Fotografenduo Heydenhaus &
Robert (Hermann Heydenhaus und L. von Robert).8
Die beiden Lichtbildner haben, wie viele andere
Pressefotografen der ersten Generation, als Atelier-
fotografen begonnen.9 Bald aber wenden sie sich auch
der „Illustrationsphotographie“, d. h. der Zeitungsfo-
tografie zu. Ab 1898 tauchen ihre Aufnahmen in der
illustrierten Presse auf.
Der Fotograf – ob Heydenhaus oder Robert die
Aufnahme gemacht hat, lässt sich nicht rekonstruie-
ren – nimmt die Szene aus einem erhöhten Blickwinkel
auf. Er hat die Kamera vermutlich in einem Fenster
auf der gegenüberliegenden Straßenseite positioniert,
um einen möglichst umfassenden und unverstellten
Blick auf den Eingang des Ambulatoriums werfen zu
können. Im Bild deutlich sichtbar ist der Schriftzug
„Kaiser Franz Joseph-Ambulatorium“, der an der Fas-
sade angebracht ist. Seit 1888 hat die Institution das
Privileg, den kaiserlichen Namen zu führen. Das Por-
tal des Krankenhauses wurde eigens für den hohen
Besuch festlich geschmückt. Vor dem Gebäude warten
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang