Seite - 90 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
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90 Im Rampenlicht · Der Kaiser im Blick der Fotografen
daten schienen verlegen und sahen leicht beschämt
zur Seite, weil sie nicht wussten, ob sie die alten
Ehrenbezeugungen noch leisten dürften, die Frauen
wagten nicht recht aufzublicken, niemand sprach und
so hörte man plötzlich das leise Schluchzen der alten
Frau in Trauer, die von wer weiß wie weit gekommen
war, noch einmal ‚ihren‘ Kaiser zu sehen. Schließlich
gab der Zugführer das Signal. Jeder schrak unwill-
kürlich auf, die unwiderrufliche Sekunde begann.
Die Lokomotive zog mit einem starken Ruck an, als
müsste auch sie sich Gewalt antun, langsam entfernte
sich der Zug.“29 Dann passiert der Zug die österrei-
chisch-schweizerische Grenze. Karl wird nie mehr
nach Österreich zurückkehren. Eine Woche später, am 1. April 1919, ist Wien in
Aufregung: Das inzwischen „republikanisch“ ge-
wordene kaiserliche Schloss Schönbrunn wird für
das gemeine Volk geöffnet. Zahlreiche Schaulustige
tummeln sich in diesen Tagen in den endlosen Gän-
gen und Fluchten des habsburgischen Schlosses. Sie
spazieren durch die ehemals privaten Räume Karls,
Zitas, Franz Josephs und all der anderen Habsbur-
ger, die hier gewohnt hatten. Besonderer Beliebtheit
erfreut sich das Schlafzimmer des kaiserlichen Paa-
res. Egon Erwin Kisch, der zu dieser Zeit als junger
Reporter in Wien lebt, berichtet am 11. April 1919
in der Tageszeitung Der neue Tag über die neuen
Schlosstouristen: „Seit dem 1. dieses Monats werden
Besucher gegen Eintrittsgebühr von einer Krone über
die eisglatten Parketts der Fremden- und Zeremoni-
alappartements geführt, in die große Galerie, in das
chinesische Rundkabinett, in das Karussellzimmer,
den Zeremoniensaal, den Gobelinsalon (…) und in
das Schlafzimmer, wo (…) Exkaiser Karl und Exkai-
serin Zita bis zum November genächtigt haben.“ Und
er ergänzt süffisant: „Wenn so ein alter Habsburger,
zum Exempel Kaiser Franz Joseph, vom Himmel die
Bewilligung bekäme, jetzt oder in zwei Monaten sein
Schönbrunner Lustschloß zu besichtigen – er würde
die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.“30
Die fröhliche Inbesitznahme der altehrwürdigen,
nun verwaisten kaiserlichen Prunkräume hat kurz
nach dem Ende des Krieges und nach dem Zerfall
der Monarchie eine enorme symbolische Bedeutung.
Im Sommer 1919 beschließt die neue Regierung, der
auch die Sozialdemokraten angehören, im Schloss
Schönbrunn „erholungsbedürftige Proletarierkin-
der“ unterzubringen. Am 7. August 1919 wird die la-
chende Kinderschar, die nun in den habsburgischen
Räumen wohnt, zusammen mit ihren Betreuerinnen
und Betreuern auf der Titelseite des Interessanten
Blattes porträtiert (Abb. 17).31 Den Kindern, die sich
auf der Treppe vor dem ehemaligen Kammergarten
versammelt haben, sind Not und Entbehrungen deut-
lich anzusehen. Viele der kleinen Körper sind dünn
und abgemagert. Aber alle lachen in die Kamera. Der
Titel über dem Bild lautet: „Im Wechsel der Zeit. Ar-
beiterkinder in Schönbrunn.“
Abb. 17 Arbeiterkinder, die zur
Erholung im Schloss Schön-
brunn
untergebracht
werden,
Sommer
1919. Nach dem
Zusammenbruch der Habsbur-
ger Monarchie und dem Gang
des Kaisers ins Exil werden die
ehemaligen Prunkräume
neu
genutzt.
Das interessante Blatt,
7.
August 1919, Titelseite.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang