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93Der
Kaiser schaut zu
Hinter der Wiener Veranstaltung steht der umtrie-
bige Theaterbesitzer Leopold Müller. Er ist Direktor
des Wiener Carl-Theaters in der Leopoldstadt und
gründet 1908 das Johann-Strauß-Theater in der Favo-
ritenstraße. Müller hat im Oktober 1908 in Reims den
ersten Überlandflug Henry Farmans gesehen und be-
geistert sich schnell für diese neue Form der Aviatik.
Im April 1909 lädt er Blériot für den Herbst nach Wien
ein.8 Er zieht die Flugschau als Spektakel für die gro-
ße Masse der Bevölkerung auf, rührt kräftig die Wer-
betrommel und entfacht auf diese Weise ein mediales
Feuerwerk rund um Blériots Auftritt. Ohne Eigennutz
ist sein Engagement freilich ganz und gar nicht: Der
Impresario verdient gut an der Veranstaltung.
Müller überlässt nichts dem Zufall. Tage vor dem
Auftritt des Fliegers findet im Kursalon Hübner im
Wiener Stadtpark eine Ausstellung statt, in der Bléri-
ots „Aeroplans“ präsentiert werden. Eintritt: eine Kro-
ne. Am Rande des Flugfeldes lässt der Veranstalter
Tribünen und Bänke aufstellen. Die Karten werden
im Vorverkauf angeboten. Logenplätze für die aristo-
kratische Gesellschaft kosten immerhin 150 Kronen.
Für Tribünensitze werden zwischen fünf und 30 Kro-
nen verlangt, einfache Banksitze kosten drei Kronen,
Stehplätze eine Krone. Sogar Kaiser Franz Joseph hat
sein Kommen zugesagt. Eigens für ihn wird wenige
Schritte vom Flugzeughangar ein vornehmes Zelt er-
richtet.
Am 23. Oktober, einem Samstag, drängen sich
nachmittags 200 000 Schaulustige um das 1000 Me-
ter lange und 800 Meter breite Flugfeld. Das Warten
auf den prominentesten Zaungast, den Kaiser, be-
ginnt. Zahlreiche Journalisten, unter anderem jene
der Wiener Bilder, des Interessanten Blattes und der
Wiener Luftschiffer-Zeitung sind ganz in der Nähe. Sie
registrieren jedes Detail. Folgen wir ihren Beobach-
tungen: „Lange, ehe Blériot kam, waren schon die
Erzherzöge Karl Stephan und Leopold Salvator da
und besichtigten den Flugapparat, dessen Motor eben
in Tätigkeit gesetzt wurde, während Chauffeur und
starke Männer rückwärts die Maschine festhielten,
damit sie an Ort und Stelle blieb.“9 Dann ist es so
weit: „Punkt 15.45 Uhr verkündeten Hochrufe von der
Zufahrtsstraße her und das Spiel der Volkshymne das
Nahen des Kaisers, und die Mitglieder des Hofes tra- ten vor den Hangar hinaus. (…) Blériot wartete neben
seiner Frau im blauen Arbeitskleid. Der Kaiser reich-
te ihm und seiner Gattin die Hand und ließ sich dann
den Apparat erklären, einen aus leichtem Gestänge
zusammengesetzten Einflächer, mit weiten Flügeln
und einem langen Steuer. Gelenkt wird er mit einem
Automobillenkrad, ein kleiner Schemel ist der Sitz.
Der Motor verzehrt 24 Liter Benzin in der Stunde.“10
Nach der kurzen Konversation, die der Monarch auf
Französisch führt, betritt er die Hofloge.
Der Kaiser schaut zu
Blériot nimmt in seinem Apparat Platz. „Da er-
scholl das Surren des Motors, und aller Blicke wand-
ten sich dem Hangar zu, aus dem im nächsten Au-
genblicke Blériots Aeroplan hervorrollte. Der Kaiser
wies mit dem Zeigefinger auf das Feld hinaus, als
das Fahrzeug sich über den Boden erhob und schön
in die Lüfte stieg, und als bei der ersten Wendung
Blériot unter stürmischen Bravorufen des Publikums
am Zelt vorbeikam, winkte der Kaiser mit der Hand
empor und begleitete auch die lauten Kundgebungen
der Menge, mehrmals ins Publikum blickend, mit zu-
stimmendem Kopfnicken.“11
Blériot „beginnt seine ruhigen, sicheren Kreise zu
ziehen; enger und weiter, bald näher bleibend, bald
bis an die äußersten Grenzen des 2,5 km im Umkreis
messenden Flugfeldes fliegend, bald wippend, nie-
dersteigend und wieder sich empor schwingend – in
Höhen, die auf 50 – 70 Meter zu schätzen sind. In der
vierten Runde zieht er vor dem Kaiser die Mütze, um
gleich darauf wieder steil in die Höhe zu gehen. In
der darauffolgenden Runde nähert er sich dem Bo-
den einmal auf ungefähr einen Meter Höhe, so daß
man glaubt, er wolle schon landen. Aber gleich dar-
auf ist er wieder so hoch, daß er alle nahen Häuser
tief unter sich lässt. Nach der fünften großen Runde
hat Blériot von dem Rundumfahren offenbar schon
genug, und macht insbesondere vor dem Hofzelt al-
lerhand Schlingen, Bogen und Achter, bei denen man
beobachten kann, mit welch entzückender Grazie der
Aeroplan Kurven beschreibt. Er neigt sich dabei mit
den Flügeln leicht nach der Innenseite, um gleich da-
rauf wieder sicher geradeaus zu schweben.“12
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang