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101Verletzliche
Männer
Aufnahme in der Zeitung die Geschlechterverhältnis-
se wieder ins Lot. Thérèse Peletier wäre demnach die
Ausnahme, die die Regel bestätigt: Die Frauen sind
das „furchtsame“ Geschlecht, die Männer hingegen
das tapfere, ihnen gehört der Luftraum. Gerade
weil eine einzelne Frau die Regel durchbricht und
sich in den Führerstand eines Flugzeuges vorwagt,
bestätigt sie, so die Botschaft, dass die Fliegerei ein
männliches Metier ist.
Im März 1910 absolviert Raymonde de Laroche,
eine junge Pariser Schauspielerin, als erste Frau
der Welt die Pilotenausbildung. Noch im selben Jahr
nimmt sie an den Flugschauen von Kairo, Budapest
und St. Petersburg teil, wo sie Vierte wird. Im Früh-
jahr 1911 wagt sich die erste österreichische Frau an
Bord eines motorgetriebenen Flugzeugs.27 Ihre Pilo-
tenausbildung schließt die aus Prag stammende Bozˇe-
na Lagler im Oktober 1911 ab. Ebenfalls im Frühjahr
1911 taucht das erste Foto einer fliegenden Österrei-
cherin in der Presse auf (Abb. 10). Die Protagonistin
heißt Grete Hierhammer, sie ist, wie die Zeitung be-
tont, die „hübsche Tochter des Vizebürgermeisters“
von Wien. Anfang April 1911 besucht sie zusammen
mit ihrer Tochter die soeben in Wiener Neustadt eröff-
nete Flugzeugfabrik „Österreichisch-ungarische Auto-
planwerke Wien-Budapest und Paris“. Sie besichtigt
Hangars und Werkstätten und besteigt anschließend
den Flugapparat „Vindobona“. Adolf Warchalowski,
ein Flieger der ersten Stunde, nun Direktor der öster-
reichischen Dependance des Unternehmens, lässt es
sich nicht nehmen, selbst auf dem Pilotensitz Platz zu
nehmen. Für ihn als Neuunternehmer ist das kleine
Spektakel ein willkommener Werbegag, der ihm das
Interesse der Presse sichert.
Die Passagierin sitzt hinter Warchalowski auf dem
Doppeldecker. „Trotz der leichten Brise, die über das
Steinfeld hinblies“, rollt der Doppeldecker auf das
Flugfeld. „Nach wenigen Sekunden schwang sich die
Flugmaschine in die Lüfte. Nach Umkreisen des Stein-
feldes wurde glatt vor den Hangars gelandet“, melden
die Wiener Bilder, die auch ein Foto vom außerge-
wöhnlichen Ereignis drucken.28 Hierhammer wird
als Ausnahmefrau vorgestellt. Fliegende Frauen wer-
den noch lange Exotinnen bleiben. Gerade in dieser
angeblich so unweiblichen Rolle sind sie allerdings als spektakulärer Aufputz für das männliche Unter-
nehmen Fliegen willkommen. Als im Juni 1913 das
zweite Wiener Flugmeeting in Aspern stattfindet, hat
das Programm bereits eine „Damenkonkurrenz“ zu
bieten. Unter den Pilotinnen ist die in Budapest gebo-
rene, in Wien lebende 20-jährige Lilly Steinschneider,
die in ihrer Etrich Taube aufsteigt.29
Verletzliche Männer
Die Geschichte der frühen Luftfahrt ist eine Ge-
schichte der Erfolge und Triumphe. Sie ist aber auch
eine Geschichte der Niederlagen und Missgeschicke.
Technische Pannen, Unfälle, Abstürze und Bruchlan-
dungen sind an der Tagesordnung. Es gibt kaum eine
Flugschau, bei der nicht Flugapparate in Schwierig-
keiten geraten und Piloten verunglücken. Die Män-
ner, die angeblich so unerschrocken und kühn in die
Luft steigen, sind in Wahrheit extrem verletzlich. Ge-
nau genommen ist diese Verletzlichkeit die Kehrseite
ihres männlich-heroischen Images. Gewiss, es domi- Abb. 10 Die Wienerin Grete
Hierhammer bricht im April
1911 von
der
Wiener Neustadt
aus zu einen Rundflug im Dop-
peldecker auf.
Pilot ist der öster-
reichische Flugpionier Adolf
Warchalowski, inzwischen
Direktor der
„Österreichisch-
ungarischen Autoplanwerke
Wien-Budapest und Paris“ in
Wiener Neustadt. Wiener Bilder,
19.
April 1911, S.
8.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang