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106 Mit der Kamera bewaffnet · Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg
Titelseite. Am 9. Juli erscheint dasselbe Bild auch im
Interessanten Blatt, der größten Illustrierten des Lan-
des (Abb. 1). Im Bildtext heißt es: „Die Festnahme des
20jährigen Gymnasiasten Gavro Princip, des Mörders
des Thronfolgerpaares.“2 Beide Male fehlen Hinweise
auf den Fotografen.
Sarajevo 1914:
Eine fotografische Legende entsteht
Die Szene wird im Handumdrehen berühmt. Von
dem Motiv werden Postkarten und Leporellos her-
gestellt, es wird immer wieder in den Zeitungen ab-
gedruckt und später auch in Büchern. Von nun an
ist dieses Foto die Ikone, die stellvertretend für die
unmittelbare Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges
steht. Zwar tauchen schon bald Zweifel auf, wonach
der Verhaftete möglicherweise gar nicht Princip sei.
Tatsächlich, so stellt sich heraus, handelt es sich bei
dem Verhafteten nicht um den Attentäter, sondern
um einen von zahlreichen anderen Verdächtigen,
die an diesem Tag festgenommen wurden. In Wirk-
lichkeit heißt der junge Mann Ferdo Behr, mit dem
Attentat hat er nichts zu tun.3 Dennoch: Einmal in
Umlauf gebracht, ist die Geschichte nicht mehr zu
stoppen. Bis heute ist der Verhaftete auf dem Foto der
Attentäter Princip.4
Und wer ist der Fotograf? Als das Bild Anfang Juli
1914 in den Wochenzeitungen gedruckt wird, taucht
nur gelegentlich ein Hinweis auf die Herkunft des
Fotos auf. In der Hamburger Illustrierten, in der das
Bild am 9. Juli erscheint, findet sich etwa am Fuße
der Zeitungsseite der Hinweis „Phot. Trampus“. Bald
setzt sich dieser Name als Fotograf des angeblichen
Attentäters von Sarajevo durch. Wer ist dieser Tram-
pus? Er heißt mit Vornamen Charles und ist ein
rühriger Geschäftsmann.5 1905 gründet er in Paris
ein Unternehmen, das sich auf den Handel mit Fo-
tografien verlegt. Die Fotoagentur Trampus liefert
Bilder aus ganz Europa, ebenso vom Balkan und aus
Nordafrika, wo sie eigene Operateure und Mitarbeiter
stationiert hat. 1906 erscheinen die ersten Fotos der
Agentur Trampus in den Wiener illustrierten Zeitun-
gen. Es liegt auf der Hand: Nicht Charles Trampus
selbst hat die Szene in Sarajevo fotografiert, sondern seine Firma ist es, die das Foto an die europäische
Presse weiterverkauft. Trampus ist also der Name der
Fotoagentur, nicht jener des Fotografen. Neuere For-
schungen gehen davon aus, dass der Fotograf Philipp
Rubel hieß. Denn neben dem Namen Trampus taucht
in den zeitgenössischen Veröffentlichungen gelegent-
lich auch der Name Rubel auf. Dieser sei, so heißt
es, ein Wiener Fotograf gewesen, der im Auftrag der
Fotoagentur Trampus in Sarajevo stationiert gewesen
sei. Er habe an diesem besagten 28. Juni 1914 in Sara-
jevo die berühmte Szene fotografiert.6
Aber auch diese Version stimmt nicht. Denn Phi-
lipp Rubel ist, so zeigen Nachforschungen in Wien,
kein Fotograf. Er ist 1871 in Czernowitz geboren. Um
die Jahrhundertwende verschlägt es ihn, wie viele
andere galizische Juden auch, in die Hauptstadt der
Monarchie. Seit 1905 lebt er in Wien.7 Hier betreibt
er ein Papiergeschäft. In der Porzellangasse 60 ver-
kauft er nicht nur Papier, sondern auch Postkarten.
Er betreibt einen kleinen Postkartenverlag. Die Mo-
tive stammen hauptsächlich aus dem kroatischen
Adriaraum. Sie tragen den Aufdruck „Verlag Philipp
Rubel, Wien IX“. Vermutlich erwirbt der Verleger die
Vorlage von der Fotoagentur Trampus und verviel-
fältigt sie in Form von Postkarten. Immerhin: Er ist
nicht der Einzige, der sich ein lukratives Geschäft mit
der Szene erhofft. Andere Fotohändler haben diesel-
be Idee, etwa der Wiener Fotograf Carl Seebald, der
seit 1908 eine Fotoagentur führt. Auch er verkauft
das Foto, das angeblich den Attentäter zeigt, an die
Presse. Wer die hektische Verhaftungsszene des an-
geblichen „Mörders“ wirklich aufgenommen hat, liegt
also bis heute im Dunkeln. Vermutlich hat ein ano-
nymer Fotograf aus Sarajevo das Bild an die Agentur
Trampus verkauft. Dass sein Name auf den Presse-
abzügen, die die Agentur vertreibt, nicht erscheint,
ist durchaus üblich. Das Foto, das den angeblichen
Attentäter zeigt, wird also wohl weiterhin als Ikone
des 20. Jahrhunderts zirkulieren, mit falscher Bildun-
terschrift. Denn vom Attentat in Sarajevo und von der
Verhaftung Princips gibt es kein Foto. Gavrilo Princip
verschwindet in der Gefängniszelle, ohne dass noch
ein Fotograf einen Schnappschuss von ihm erhascht.
Ein einziges Mal noch wird er seine Zelle verlas-
sen. Am 23. Oktober 1914 – inzwischen hat der Krieg
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang