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113Der
Propagandakrieg in der Praxis
wäre mit den Mitteln der Fotografie unmöglich ge-
wesen. Die historische Realität ist allerdings in kei-
ner Weise mit der Siegesbotschaft der Illustration in
Einklang zu bringen. Denn im Herbst 1914 befinden
sich die Truppen der k. u. k. Armee an der gesam-
ten Ostfront auf dem Rückzug. Eine Niederlage folgt
der anderen. Im November erreichen die russischen
Truppen bereits die Gegend um Krakau. In der Zeich-
nung wird diese Entwicklung geleugnet und ein er-
folgreicher Widerstand gegen die russische Invasion
suggeriert.
Ein gutes halbes Jahr später hat sich das militäri-
sche Blatt gewendet. Im Frühjahr und Frühsommer
1915 gelingt es den österreichischen Truppen, nach
und nach West- und Teile Ostgaliziens zurückzu-
erobern. Am 22. Juni wird die ostgalizische Haupt-
stadt Lemberg eingenommen. Dieser Sieg wird in
der Presse mit großem Aufwand propagandistisch
ausgeschlachtet. Als am 8. Juli 1915 über den siegrei-
chen „Einzug unserer Truppen in Lemberg“ berichtet
wird, prangt ein Foto (und nicht eine Zeichnung) auf dem Umschlag (Abb. 8). Patriotische Massenszenen
und Siegesfeiern lassen sich in der Fotografie weit-
aus besser dokumentieren als in der Zeichnung. Der
Wiener Kriegsfotograf Josef Perscheid hat seinen
Apparat mitten in der Straße, aber deutlich erhöht
(möglicherweise auf einer Stehleiter oder einem im-
provisierten Podest) aufgestellt, um die Siegeskund-
gebung in der zentral gelegenen Karl-Ludwig-Straße
möglichst gut überblicken zu können. Die berittenen
Soldaten in der Straßenmitte sind von einer dichten
Menschenmasse umringt. Tausende Feiernde und
Schaulustige sind an diesem Tag in Lemberg unter-
wegs. Im Bildtext ist vom „Jubel der befreiten Bevöl-
kerung“ die Rede, mit dem „die siegreichen, mit Blu-
men geschmückten Truppen unserer zweiten Armee“
begrüßt werden.25
Auch im fernen Wien wird die Wiedereroberung
Lembergs in großem Stil gefeiert. Am 24. Juni 1915,
zwei Tage nach dem Sieg, wird im Schloss Schön-
brunn eine Huldigung an den Kaiser inszeniert (Abb.
9). Im Schlosshof hat sich eine große Menschenmen-
Abb. 9 Kaiserhuldigung in
Wien nach der Wiedererobe-
rung von Lemberg. Im
Hof
des Schlosses Schönbrunn
versammelt sich eine große
Menschenmenge, der Wiener
Bürgermeister Richard
Weiskirchner hält eine Rede
an
den Kaiser, der sich
kurz
auf der Terrasse zeigt.
Wiener
Bilder, 4.
Juli 1915, S.
5.
Foto:
R. Lechner
(Wilh. Müller).
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang