Seite - 118 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
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118 Theater der Macht · Parlament und Politik in Bildern
ten unter Ausschluss der Kamera statt. Zu Beginn der
1890er Jahre ändert sich das: Erstmals betritt nun ein
Fotograf den Sitzungssaal des Parlaments. Er wen-
det sich zunächst nicht, wie man vielleicht vermuten
könnte, den Ministern und Abgeordneten zu, son-
dern dem journalistischen Publikum. Das hat seinen
Grund. Immerhin bilden die schreibenden Redakteu-
re das Herzstück der politischen Presse. Sie stellen
jene Öffentlichkeit her, die den Parlamentsdebatten
über den Sitzungssaal hinaus Aufmerksamkeit und
Gehör verleiht. „Ohne die Presse“, so der Redakteur
der Österreichischen Illustrirten Zeitung, „wäre die
Glaskuppel des Sitzungssaales wenig mehr als eine
Isolierglocke, und ein Parlament ohne Pressfreiheit
wäre tathsächlich auch wenig mehr als eine Abstim-
mungs- und Steuerbewilligungsmaschine.“4
Um die Jahrhundertwende weitet sich die politi-
sche Öffentlichkeit, die bisher vorwiegend über den
Weg der Schrift hergestellt wurde, deutlich aus. Die
Politiker erhalten nun erstmals ein fotografisches
Gesicht und damit ein visuelles Image. Der Fotograf
in der Presseloge des Abgeordnetenhauses hat also
Signalcharakter. Er deutet auf eine neue Form von
Öffentlichkeit hin, die wir als fotografische Öffentlich-
keit bezeichnet haben.5
Es ist wichtig, diesen Prozess der zunehmen-
den Visualisierung der Politik nicht bloß als tech-
nisch-mediale Fortschrittsgeschichte zu sehen,
sondern mit den vielschichtigen politisch-gesell-
schaftlichen Umbrüchen der Zeit in Verbindung zu
bringen. Der zentrale Motor dieser Entwicklung ist
die Herausbildung neuer Formen der Massenpolitik.
Um nur ein paar Entwicklungen zu nennen: Nach
heftigen politischen Kämpfen wird 1907 bei Reichs-
ratswahlen erstmals nach dem allgemeinen Män-
nerwahlrecht abgestimmt.6 Damit wird die Gruppe
der politisch aktiven Bevölkerung mit einem Schlag
deutlich ausgeweitet. Mit den Sozialdemokraten und
Christlichsozialen etablieren sich vor der Jahrhun-
dertwende neue Massenparteien, zu deren Strategie
die politische Mobilisierung der mittleren und unte-
ren sozialen Schichten gehört. Die eskalierenden Na-
tionalitätenkonflikte innerhalb der Monarchie führen
zu einer zunehmenden ethnischen Frontstellung. In
den großen Städten der Monarchie kommt es zu ei- ner Massenzuwanderung und, damit verbunden, zu
enormen Bevölkerungszuwächsen. Alle diese Ent-
wicklungen haben Auswirkungen auf die Presseland-
schaft. Die auflagenstarke Massenpresse wird nun
zunehmend zur Bühne der politischen Profilierung
und Auseinandersetzung. Zu diesem Segment gehört
auch die illustrierte Wochenpresse. In den Jahren um
und nach 1900 hält die Politik schrittweise Einzug in
die Fotoberichterstattung. Die Illustrierten liefern nun
immer öfter aktuelle Bilder zum politischen Tagesge-
schehen. Sie berichten über Massenkundgebungen
auf der Straße, über die Ergebnisse von Wahlen und
auch über die Debatten im Parlament. Umgekehrt ent-
decken aber auch Politiker die auflagenstarke illust-
rierte Presse als Bühne für medienwirksame Auftritte.
Politiker im Bild: Das Beispiel Karl Lueger
Karl Lueger, der zwischen 1897 und 1910 Bürger-
meister von Wien ist, verkörpert wie kein anderer
diesen neuen Politikertypus, der das Spiel mit den
Medien souverän beherrscht. Seine politische Kar-
riere beginnt er in den Reihen der Liberalen, 1893
gründet er die Christlichsozialen als moderne Mas-
senpartei und setzt nun immer stärker auf Demago-
gie, Populismus und Antisemitismus als Vehikel für
die Mobilisierung seiner Anhänger.7 Lueger ist der
erste österreichische Politiker, der in der Öffentlich-
keit systematisch ein fotografisches Image aufbaut.
Wenn wir die Entwicklung seiner medialen Prä-
senz in der Presse verfolgen, wird eines deutlich: Bis
Mitte der 1890er Jahre spielt die Bildberichterstattung
bei der Darstellung und Bewerbung Karl Luegers noch
keine herausragende Rolle. Ab Ende der 1890er Jahre
aber zeichnet sich ein Umschwung ab. Die Fotografie
wird als Mittel der Inszenierung immer wichtiger. Als
Lueger 1895 zum ersten Mal das Bürgermeisteramt
anstrebt, tauchen vermehrt Bilder in der illustrierten
Presse auf. Zunächst sind es noch Zeichnungen, aber
schon 1897, als er erstmals Bürgermeister wird, treten
immer häufiger Fotos an ihre Stelle.
Luegers Imagewerbezüge sind sorgfältig auf seine
politischen Kampagnen abgestimmt. Besonders im
Vorfeld politischer Wahlen oder auf dem Höhepunkt
heftiger politischer Debatten häufen sich die Lue-
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang