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123Übergang
zur Republik
Vor einem großen Auditorium der um die Minister-
bank gescharten Abgeordneten hält Ministerpräsi-
dent Dr. Freiherr von Gautsch (×) in der Sitzung des
Abgeordnetenhauses vom 27. Oktober eine politisch
bedeutsame Rede über das Verhältnis der Regierung
zu den Parteien.“29 Bei genauerem Hinsehen ist die
gespannte Stimmung im Saal tatsächlich wahrnehm-
bar. Die meisten Abgeordneten haben sich erhoben,
viele haben ihre Sitzplätze verlassen und haben wei-
ter vorne Aufstellung genommen. Gebannt blicken
alle auf den Redner. Dieser ist, im Bild durch ein
Kreuz (×) markiert, in der Mitte der Ministerbank
stehend zu sehen.
Bilder wie dieses wären ein Jahrzehnt zuvor noch
unmöglich gewesen. Das Parlament war ein abge-
schotteter Ort, der nur einigen wenigen Privilegier-
ten, den Abgeordneten, Ministern und ausgewählten
Journalisten zugänglich war. Nun ändert sich die Situ-
ation. Nicht mehr kleine Honoratiorengruppierungen
beherrschen die Geschicke des Abgeordnetenhauses,
sondern gut organisierte Massenparteien, die ein
großes Interesse daran haben, ihre Arbeit im Hohen
Haus für ein breites Publikum sichtbar zu machen.
Aber nicht nur die parlamentarische Arbeit wird nun
in Fotografien festgehalten, auch andere Orte der po-
litischen Entscheidungsfindung öffnen sich allmäh-
lich dem Publikum. Politische Versammlungen und
Kundgebungen auf der Straße werden nun ebenso für
die illustrierte Presse dokumentiert30 wie hohe Regie-
rungsvertreter in Ausübung ihres Amtes.
Und auch der Wahlvorgang selbst wird nun zum
Thema der fotografischen Berichterstattung. Am
13. Juni 1911 findet die letzte Wahl des Reichsrats
vor dem Ersten Weltkrieg statt. Zwei Tage später, am
15. Juni, erscheint im Interessanten Blatt ein Foto, das
das Innere des Zentralwahlkatasters im Wiener Rat-
haus zeigt (Abb. 6). Das Bild, es ist das erste dieser
Art, wurde etwa eine Woche vor der Wahl von einem
„Spezialphotographen des interessanten Blattes“
aufgenommen. Im Arbeitssaal herrscht hektische
Betriebsamkeit. Dutzende von Männern – aber keine
einzige Frau – sind mit der Ausstellung der Wahl-
zettel und der bürokratischen Logistik des Wahlvor-
gangs beschäftigt. Im Vordergrund sitzen die Beam-
ten an ihren Schreibtischen, vor ihnen stapeln sich die Dokumente, andere Angestellte sind, ebenfalls im
Vordergrund, stehend in ihre Arbeit vertieft. Wenn
wir die Aufnahme genauer betrachten, wird eines
deutlich: Es handelt sich um keinen Schnappschuss.
Das Foto ist sorgfältig inszeniert. Die Männer haben
eigens für den Fotografen Aufstellung genommen,
viele blicken in Richtung Kamera. Vermutlich wur-
den sogar Arbeitskräfte herangeschafft, um die Größe
der Wahlbehörde eindrucksvoll unter Beweis stellen
zu können.
Übergang zur Republik
Die im Jahr 1911 gewählten Abgeordneten sind
Ende 1918, am Ende des Krieges, formal noch im
Amt.31 Eine letzte, wichtige Aufgabe haben sie noch
zu erfüllen. Die deutschsprachigen Delegierten des
Wiener Abgeordnetenhauses schließen sich Ende Ok-
tober 1918 zu einer Provisorischen Nationalversamm-
lung zusammen.32 Und am 12. November 1918 rufen
sie die Republik aus. Dieser Tag ist ein einschnei-
dendes Ereignis. Die Monarchie existiert nicht mehr,
eine neue politische Epoche beginnt. Das Zeremoniell Abb. 6 Die Arbeit
im Zentral-
wahlkataster im Wiener Rat-
haus. Die Aufnahme erscheint
anlässlich der Reichsratswahl
am 13.
Juni 1911. Das interes-
sante Blatt, 15.
Juni 1911, S.
8.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang