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129Regieren
ohne Parlament
halten die Uniformierten nicht in ihren Händen. Die
Gewehre liegen deutlich sichtbar auf dem Boden, so
als ob es darum ginge, der Öffentlichkeit zu beweisen,
dass im Parlament auf Dauer keine Waffen getragen
werden.
Die gespannte politische Lage hält noch bis in
den Frühsommer 1919 an. Im Juni ruft die Kommu-
nistische Partei Deutschösterreichs zu einer Groß-
kundgebung für den 15. Juni in Wien auf, auf der die
Räterepublik ausgerufen werden und die Solidarisie-
rung mit der russischen und ungarischen Revoluti-
on erfolgen soll.43 Die Regierung sieht darin einen
Putschversuch und lässt am Vorabend des 15. Juni die
kommunistischen Anführer verhaften. Dennoch fin-
det die Kundgebung statt. Es kommt zu gewaltsamen
Zusammenstößen zwischen der Polizei und kommu-
nistischen Demonstranten, die die Freilassung der
Gefangenen fordern. Die Attacken der aufgebrachten
Menge gegen die Polizeiabsperrungen werden mit
Schüssen beantwortet. In der Hörlgasse gibt es zwölf
Tote und rund 80 Schwerverwundete, von denen acht
ihren Verletzungen erliegen.44 Mitte 1919 beginnt sich
die politisch aufgeheizte Stimmung allmählich zu be-
ruhigen. Am 1. August 1919 wird die kommunistische
Rätediktatur Béla Kuns im benachbarten Ungarn ge-
stürzt. Der Kampf um die Vorherrschaft innerhalb der
Arbeiterbewegung ist nun zugunsten der Sozialdemo-
kraten entschieden. In den folgenden Jahren konsoli-
diert sich die parlamentarische Demokratie. Regieren ohne Parlament
Ende der 1920er Jahre kommen erneut turbulente
Zeiten auf die parlamentarische Demokratie zu. Die
politische Ausgangslage hat sich nun grundlegend
geändert. Nicht mehr aufgebrachte Kriegsverlierer
und kommunistische Demonstranten, sondern straff
organisierte paramilitärische Verbände verlagern die
Auseinandersetzung auf die Straße. Insbesondere die
rechte Heimwehr lehnt das parlamentarische System
offen ab. Ein Foto, das Anfang 1930 während eines
großen Heimwehraufmarsches an der Wiener Ring-
straße entsteht, signalisiert auf schlagende Weise die
Distanz zwischen Parlament und politischer Kundge-
bung (Abb. 14). Der Pressefotograf Leo Ernst hat mit
seiner Kamera etwas erhöht am Straßenrand Stellung
bezogen. Vor ihm marschieren die Spitzenfunktionäre
der Heimwehr. Die Straße wird von zahlreichen Schau-
lustigen gesäumt. Ganz links im panoramaartig ange-
legten Bild taucht aus dem Winternebel ein Teil des
Parlamentsgebäudes auf. Das Foto ist kein Schnapp-
schuss. Ernst hat seinen Standpunkt sorgfältig ge-
wählt. Auf diese Weise gelingt es ihm, das Parlament
und die daran stolz vorbeiziehende paramilitärische
Formation geschickt in einer einzigen Szene festzu-
halten. Man merkt unschwer, wohin die politische
Macht gewandert ist: vom Parlament auf die Straße.
„Wir verwerfen den westlichen demokratischen
Parlamentarismus und Parteienstaat!“ Mit diesen Abb. 14 Heimwehraufmarsch
auf der Wiener Ringstraße vor
dem Parlament. Das interessan-
te Blatt, 6.
Februar 1930, S.
4.
Foto: Leo Ernst.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang