Seite - 136 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
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136 Kampf um die Straße · Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik
andere als rein dokumentarische Bilder für die schlei-
chende Militarisierung der Gesellschaft zu finden.
Massenpolitik im öffentlichen Raum
Gehen wir aber zunächst noch einmal zurück
in die ersten Jahre des Jahrhunderts und werfen
wir – um den langen Weg hin zur Massenpolitik auf
der Straße in den 1930er Jahren ermessen zu kön-
nen – einen Blick auf jene Zeit, als sich die Straße
für politische Kundgebungen öffnete. Natürlich gab
es schon lange vor der Jahrhundertwende öffentliche
Massenkundgebungen und Protestmärsche, aber um
1900 entsteht, wie wir gesehen haben, ein neues Phä-
nomen, das die Politik von nun an prägen sollte: Der
öffentliche Raum wird zur Arena der Massenpolitik.
Für die jungen, bisher von der Macht ausgeschlos-
senen politischen Kräfte (insbesondere die Sozial-
demokraten, Gewerkschaften und die Christlichso-
zialen), die in ihren politischen Strategien auf eine
Massenanhängerschaft und Massenbasis setzen, wird
die Massenkundgebung auf der Straße zum Instru-
ment, um politischen Forderungen Nachdruck zu ver-
leihen. Begleitet wird diese politische Eroberung der
Straße, auch das ist neu, von der „Vervielfältigung“
des Ereignisses vor Ort in Berichten der auflagen-
starken Massenpresse – und in fotografischen Bildern
der illustrierten Presse. Die Fotografie verleiht der
Massenpolitik erst jenes öffentliche Gesicht, das sie
braucht, um wirksam zu sein. Als es – im Schatten
der russischen Revolten – im April 1904 in Ungarn zu
großen Eisenbahnerstreiks kommt, finden die ersten
fotografischen Bilder dieser Massenaktion Eingang in
die österreichische Presse. Wenn es darum geht, das
Geschehen in Nahaufnahme und möglichst lebendig
zu schildern, kommen in diesen Jahren aber immer
noch Zeichnungen zum Einsatz (Abb. 3). Bald aber
löst die Fotografie die Zeichnung ab und wird zum
dominanten Bildmedium. Die Kundgebungen und
Aufmärsche auf der Straße werden von nun an nicht
mehr von Zeichnern, sondern ausschließlich von
Pressefotografen begleitet und dokumentiert.
Ende Oktober, Anfang November 1905 kommt es
in Wien und in anderen österreichischen Städten zu
machtvollen Demonstrationen für das allgemeine
ein Detail – den Hahnenschwanz – für das Ganze, die
politische Kultur der reaktionären Heimwehr. Und
natürlich ist die Darstellung des politischen Gegners
im Bild der verzerrten Groteske nicht nur ein poli-
tisches, sondern auch ein ästhetisch-künstlerisches
Statement. Der künstlerische Tanz, so suggeriert der
Auftritt, hat in Zeiten der politischen Bedrohung von
rechts seine politische Abstinenz aufzugeben. Er hat
sich einzumischen, und zwar nicht mit den Mitteln
des Realismus, sondern durchaus mit künstlerischen,
expressiven Mitteln, der ironischen Zuspitzung in
Form der Groteske. Im Kuckuck, der von Siegfried
Weyr geleiteten Illustrierten, findet diese Form der
Intervention ein öffentliches Forum.
Bemerkenswert ist die Aktion aber auch, weil
sie die politische Entwicklung in Richtung einer ag-
gressiven, militärisch durchsetzten Massenpolitik in
einer künstlerischen Szene festhält. Sie dokumen-
tiert, wie sehr sich die politische Konfrontation vom
Schauplatz des Parlaments und der demokratischen
Öffentlichkeit wegbewegt und sich immer häufiger
auf die Straße verlagert. An die Stelle der friedlichen
Massenkundgebung von Zivilisten tritt der macht-
volle militärische Aufmarsch. In der künstlerischen
Fotografie um 1930 hat dieser schmerzliche Prozess
in Richtung Diktatur nur wenig Widerhall gefunden.
Zwar gibt es genügend dokumentarisches Bildmate-
rial (Pressefotos vor allem), die die immer erbitterter
geführten Auseinandersetzungen um die Oberhoheit
über die Straße dokumentieren. Aber nur selten
gehen die fotografischen Dokumente über die Illus-
tration der Tagespolitik hinaus. Bezeichnenderweise
werden wir am ehesten in der sozialdemokratischen
Illustrierten Der Kuckuck fündig, wenn es darum geht,
Abb. 3 Streik der ungarischen
Eisenbahner. Streikende
verhindern auf dem Bahnhof
in Budapest
die Ausfahrt eines
Zuges. Das interessante Blatt,
28.
April 1904, S.
9.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang