Seite - 137 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945

137Massenpolitik im öffentlichen Raum Wahlrecht. Diese Ereignisse finden in der illustrierten Presse einen breiten bildlichen Niederschlag. Zahl- reiche Fotos der demonstrierenden Menschenmassen werden veröffentlicht. Auch wenn die bürgerlichen Zeitungen sich in der Regel von den protestierenden Sozialdemokraten distanzieren, finden die politischen Forderungen der Straße nun ein mediales Echo, das Wirkung zeigt. Unter dem anhaltenden politischen Druck kommt die Regierung den Forderungen der Straße teilweise entgegen. Die Reichsratswahl 1907 wird nach dem allgemeinen Männerwahlrecht durch- geführt. Das Frauenwahlrecht wird allerdings erst 1918 eingeführt. Aber nicht nur allgemeine politische Forderungen werden von der Straße aus gestellt, auch Berufsinteressen werden nun immer öfter in öffentlichen Massendemonstrationen kundgetan. Im Mai 1906 gehen die Handel- und Gewerbetreibenden Wiens für ihre Forderungen auf die Straße, im März 1907 kommt es zu einem Streik der Wiener Damen- schneiderinnen, 6000 von ihnen versammeln sich auf der Wiener Ringstraße zum Protestzug. Im Interessan- ten Blatt wird in Bild und Text ausführlich über das Ereignis berichtet. „Die Arbeiterinnen und die Arbei- ter wollen nicht mehr unter den alten Bedingungen weiterarbeiten, sie wollen kürzere Arbeitszeit und hö- here Löhne. Die Modesalons und die Damenschneider möchten nur einen Teil der an sie gestellten Forderun- gen erfüllen, die Arbeiterinnen und Arbeiter wieder hoffen, wenn sie fest bleiben, das Ganze durchzuset- zen, und vorläufig stehen sich die Parteien ohne viel Luft zur Nachgiebigkeit gegenüber.“5 Das Bild zum Bericht zeigt freilich nicht den Protestzug im Freien, sondern eine Kundgebung der Frauen in den geschlos- senen Räumen des Wiener Arbeiterheims (Abb. 4). Dem bürgerlichen Blatt scheint das Motiv „Ringstra- ße in Schneiderinnenhand“ doch zu gewagt zu sein. Die Freiheit der öffentlichen Meinungsäußerung ist eine liberale Errungenschaft, die ihre Grenzen kennt. Wenn die Forderungen der Straße „zu weit“ gehen, schlägt die liberale, bürgerliche Öffentlichkeit Abb. 4  Streik  der  Wiener  Damenschneiderinnen.  Mas- senversammlung  streikender  Gehilfinnen  im  Wiener  Arbei- terheim.  Das interessante Blatt,  28.  März  1907,  S.  3.  Foto:  R.  Lechner  (Wilh.  Müller).