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140 Kampf um die Straße · Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik
fällt auf, dass der öffentliche politische Raum zwi-
schen 1918 und 1938 im Wesentlichen zweigeteilt ist.
Während in Wien die Sozialdemokratie (bis zu ihrem
gewaltsam herbeigeführten Ende 1934) mit absoluter
Mehrheit herrscht, haben fast im gesamten restlichen
Österreich die Christlichsozialen das Sagen. Die Kom-
munisten, die in den politisch turbulenten Monaten
nach dem Kriegsende in Wien immer wieder größere
Massenkundgebungen zustande bringen (Abb. 9), ge- hen in diesem Zweikampf bald unter. Es gelingt ihnen
zwar, die Straße zu ihrer Bühne zu machen, aber ein
wichtiges Gegenstück dieser politischen Öffentlich-
keit, der Zugang zu auflagenstarken Massenmedien,
fehlt ihnen.
Das Ende des prekären Gleichgewichts zwi-
schen Sozialdemokraten und Christlichsozialen
kündigt sich Ende der 1920er Jahre an, als es den
konservativen Kräften, unterstützt durch Regierung
und Polizeistaat gelingt, der Linken die Oberhoheit
über die Wiener Straße allmählich zu entwinden.
Der massive Polizeieinsatz gegen demonstrierende
Arbeiter im Jahr 1927 (der unter dem Begriff
des „Justizpalastbrandes“ bekannt geworden ist)
markiert einen wichtigen Einschnitt in diesem
Prozess. Zwei Jahre später geht die Polizei gegen
eine kommunistische Kundgebung in Meidling vor
(Abb. 10). Berittene Polizisten lösen die Kundgebung
gewaltsam auf. In der Folge kommt es zu politisch
motivierten Verhaftungswellen im kommunalen
Wiener Wohnbau. Als es im Spätherbst 1929 der pa-
ramilitärischen Heimwehr gelingt, in Wien von der
Straße Besitz zu ergreifen, ist der erste Schritt für
die spätere Machtübernahme bereits getan. Die Sozi-
aldemokratie ist bereits in der Defensive. Anfang der
1930er Jahre spitzt sich der Machtkampf auf der Stra-
ße zu. 1932 erwächst den Christlichsozialen nicht nur
von links Konkurrenz (den Sozialdemokraten), son-
dern auch von rechts (den Nationalsozialisten), die
in diesem Jahr ihre größten politischen Erfolge feiern
und vor Gewalt und Terror nicht zurückscheuen. In
dieser verfahrenen politischen Situation verspricht
die autoritäre Regierung Dollfuß, auf der Straße ge-
waltsam „aufzuräumen“. Nach und nach werden die
Abb. 9 „Es lebe
die Diktatur
des Proletariats“. Kommunis-
tische Demonstranten ziehen
am 15.
Juni
1919 zum Wiener
Landesgericht und fordern
die Freilassung der am
Vortag
verhafteten Parteiführer. Das
interessante Blatt, 19.
Juni 1919,
S.
5. Foto: Welt-Preß-Photo.
Abb. 10 Zusammenstöße von
kommunistischen Demonst-
ranten
und der Polizei bei der
Wiener Philadelphiabrücke. Das
interessante Blatt, 28.
Februar
1929, Titelseite. Foto: Karl
Schleich.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang