Seite - 144 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
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							144 Kampf um die Straße · Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik
mokraten.14 In ihrem Feuilleton „Vor dem Buchladen“
beobachtet sie aufmerksam das Schaufenster einer
Wiener Buchhandlung. „Hundert Bücher. Oder mehr.
(...) Wer liest sie? Für wen sind sie geschrieben?“15 In
knappen präzisen Beobachtungen lässt sie im Spiegel
dieses Schaufensters ein Porträt der Menschen dieser
Stadt entstehen. In den Büchern, die sie kaufen, ent-
deckt sie Sehnsüchte und Hoffnungen, Befürchtungen
und Ängste. In ihrem kurzen Text gelingt es der Au-
torin, die Stimmung in Wien Mitte der 1930er Jahre
in einfachen, klaren Bildern einzufangen. Werfen wir
einen Blick auf das Bild. Es zeigt das Schaufenster
einer Buchhandlung. Die Aufnahme stammt von Dora
Horovitz, die Ende der 1920er Jahre zusammen mit
Trude Geiringer ein Fotoatelier eröffnet hat und nach
1934 ihr Geschäft allein weiterbetreibt. Im Schau-
fenster liegen zahlreiche nationalsozialistische Bü-
cher und Publikationen mit Hakenkreuzzeichen auf
dem Umschlag. Hilde Spiel weiß, dass die Presse der
Zensur unterliegt, sie formuliert vorsichtig und zwi-
schen den Zeilen. Die nationalsozialistische Literatur nennt sie nicht. Und dennoch geht sie – indirekt – auf
die gegenwärtige politische Situation ein. Was lesen
die Männer?, fragt sie. „Sie haben noch Krieg. Nach
zehnjährigem Schweigen war der Damm gebrochen
und die trübe, gurgelnde Flut schwoll hervor. Nun si-
ckert sie immer noch, denn sie werden das Erlebnis
nicht los, dieses schwerste Erlebnis ihrer Jugend und
unseres Jahrhunderts. Novemberschlacht – Westfront
1918 – dabei halten wir immer noch, und am Isonzo.
Im Osten geht es bis Persien und Afghanistan: Pa-
scholl Plenny!“16 Die „trübe, gurgelnde Flut“, die 1938
scheinbar so überraschend kommt, ist, so zeigt dieser
Bildbericht von der Straße, schon da, lange bevor die
nationalsozialistischen Truppen in Wien einmarschie-
ren. Hilde Spiel hat die Stimmung im Land genau re-
gistriert. Als Jüdin ist sie selbst dem zunehmenden
Antisemitismus ausgesetzt. Bald nachdem der Text
erschienen ist, verlässt sie deshalb, zusammen mit ih-
rem Mann, dem Schriftsteller Peter de Mendelssohn,
Österreich und zieht nach London. 1938 folgt ihr Dora
Horovitz in die Emigration nach.
Abb. 14  „Vor  dem 
Buchladen“. 
Der  aufmerksame  Blick  in  das 
Schaufenster  einer  Wiener 
Buchhandlung  (mit 
zahlreichen 
nationalsozialistischen 
Publika-
tionen)  erzählt  viel 
über  die  po-
litische  Stimmung  in  Österreich 
Mitte  der  1930er  Jahre.  Der
Sonntag,  5. 
Juli  1936,  S. 
7. 
Foto:  Dora  Horovitz.
					
				
						Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
							Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
								
				Entnommen aus der   FWF-E-Book-Library  
							- Titel
 - Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
 - Untertitel
 - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
 - Autor
 - Anton Holzer
 - Verlag
 - Primus Verlag
 - Datum
 - 2014
 - Sprache
 - deutsch
 - Lizenz
 - CC BY-NC-ND 3.0
 - ISBN
 - 978-3-86312-073-3
 - Abmessungen
 - 23.0 x 29.0 cm
 - Seiten
 - 498
 - Schlagwörter
 - Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
 - Kategorie
 - Medien
 
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
 - Neue illustrierte Welt Einleitung 10
 - Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
 - Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
 - Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
 - Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
 - Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
 - Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
 - Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
 - Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
 - Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
 - Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
 - Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
 - Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
 - Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
 - Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
 - Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
 - Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
 - Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
 - Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
 - Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
 - Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
 - Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
 - Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
 - Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
 - Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
 - Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
 - Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
 - Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
 - Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
 - Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
 - Anhang