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159Kurzlebige
Experimente
Jedermann erhält er die Aufgabe, für die Zeitung ein
Bildarchiv aufzubauen und zugleich Reportagereisen
durch Österreich zu unternehmen, um aktuelle Bilder
anbieten zu können. Casparius veröffentlicht zwar
viel im Jedermann, aber er ist nicht fest angestellt
und arbeitet nebenbei auch für andere Zeitungen und
Zeitschriften, u. a. für die Wiener Bilder, den Kuckuck,
die Moderne Welt und das Wiener Magazin. Neben ihm
liefert eine ganze Reihe österreichischer Fotografen
(Lothar Rübelt, Leo Ernst, Albert Hilscher, Martin
Gerlach, das Atelier Willinger und viele andere) Bil-
der an den Jedermann, weitere Aufnahmen kommen
von österreichischen und deutschen Fotoagenturen.
In der zweiten Nummer des Jedermann, die Mitte
Oktober 1932 erscheint, wird eine wöchentliche Auf-
lage von 51 500 Exemplaren genannt.68 Auch wenn
sich die ersten Nummern der Zeitung, die stark
beworben werden, gut verkaufen, erscheint diese
Angabe übertrieben.69 Hinweise der Redaktion zur
weiteren Entwicklung der Auflage fehlen. Es darf
aber angenommen werden, dass diese kontinuier-
lich zurückgeht. Anzeigen akquiriert der Jedermann
kaum. Bereits Anfang 1933 muss das Blatt einge-
stellt werden. Ausschlaggebend für das Ende sind
in erster Linie wirtschaftliche Schwierigkeiten. Eine
Rolle spielt aber auch der politische Umbruch. Im
März 1933 nimmt die konservative Regierung erst-
mals eindeutig Kurs in Richtung Diktatur. Für eine
linksliberale Zeitung wie den Jedermann ist in einer
politisch zunehmend kontrollierten Presselandschaft
kein Platz mehr.
Ebenfalls nur wenige Monate dauert ein ganz an-
ders geartetes publizistisches Experiment, an dem
der Chefredakteur der renommierten Berliner Illus-
trirten Zeitung (BIZ), Kurt Korff, beteiligt ist. Unter
seiner Regie startet Ende 1933 eine neue Illustrierte
in Wien, die Wiener Illustrierte Zeitung.70 Mit der Wie-
ner Illustrierten Klebinders aus dem Jahr 1930/31 hat
dieses Zeitungsprojekt nichts gemeinsam. Vielmehr
handelt es sich um ein reines Importprodukt nach
dem Muster der BIZ. Die erste Nummer erscheint am
5. November 1933. Nicht nur die äußere Gestaltung
ähnelt der Berliner Illustrirten Zeitung, sondern auch
das Innenleben und die inhaltliche Ausrichtung. In
der Wiener Illustrierten Zeitung werden Aufnahmen derselben Fotografen wie in der BIZ veröffentlicht.
Ebenso wie die BIZ ist auch die Wiener Illustrierte Zei-
tung ein bürgerliches Blatt, das keinerlei Schwierig-
keiten hat, sich mit einer zunehmend reaktionäreren
österreichischen Regierung zu arrangieren.
Kurt Korff tritt selbst nicht in Erscheinung, son-
dern hält sich diskret im Hintergrund. Als Eigentü-
mer, Herausgeber und Verleger ist im Impressum ein
gewisser Adolf Pitner und als für den Inhalt verant-
wortlich Karl Wagner genannt.71 Die ökonomischen
Fäden werden allerdings im Hause Ullstein gezogen.
Nicht zuletzt erfolgt der Druck des Blattes in der seit
Mitte der 1920er Jahre zu Ullstein gehörenden Wie-
ner Druckerei Waldheim-Eberle. Möglicherweise star- Abb. 12
Die Wochenzeitung
Jedermann
ist eine linkslibe-
rale Illustrierte, die
zwischen
Ende 1932 und
Anfang 1933
erscheint. Jedermann,
29.
Ok-
tober
1932, Titelseite. Foto:
Heinz Thun.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang