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199Kontinuitäten
und Brüche: Die Bunte Woche
dennoch: Ganz verzichtet er auf sein Montagehand-
werk nicht. Gelegentlich zeigt er im Innenteil noch,
was er kann. Mitte Mai findet sich auf der hinteren
Umschlagseite eine raffiniert gebaute Fotomontage,
die wohl von Weyr stammt (Abb.
7). Sie hat den ame-
rikanischen Kriminalfall „Dillinger“ zum Thema, der
1934 nicht nur die Bevölkerung in den USA in Atem
hält, sondern über den weltweit berichtet wird.
John Herbert Dillinger ist der Kopf einer brutalen
Bande, die durch eine Reihe spektakulärer Banküber-
fälle und Gefängnisausbrüche bekannt wird. 1933/34
treibt der Gangster ein monatelanges Katz- und
Mausspiel mit der Polizei und wird als Staatsfeind
Nr. 1 gesucht. Auf seine Ergreifung ist ein Kopfgeld
von 25 000 Dollar ausgesetzt. Der Fall wird zum Me-
diengroßereignis. Über Dillingers Flucht wird in allen
Zeitungen ausführlich und sensationslüstern berich-
tet. Weyr weiß natürlich, dass der Fall Dillinger auch
in Österreich bekannt ist. Im Bildtext werden die
wichtigsten Facetten des Kriminalfalls noch einmal
zusammengefasst: „Seit Wochen hält der 1. Volksfeind
Nordamerika in Atem. Umgeben von einem Harem
hübscher Frauen, zieht er mordend und plündernd
durch das Land. Das Hand-Maschinengewehr, wie Sie
es oben rechts sehen, ist seine Waffe. Wegen 18 Mor-
den ist bereits Anklage gegen ihn erhoben.“18
In der Fotomontage selbst spielt Weyr mit den
Versatzstücken dieses Kriminaldramas und baut
daraus eine suggestive Bildgeschichte. Der Name
„Dillinger“, der 1934 in aller Munde ist, ist mitten
ins Bild gesetzt. Darunter, in der Bildmitte, ist der
Protagonist zu sehen. Die Aufnahme, die auch auf
den Fahndungsplakaten verwendet wird, hat sich
über die illustrierte Presse millionenfach verbreitet.
Den Hintergrund nimmt eine stilisierte amerikani-
sche Hochhaus-Skyline ein. Neben Dillinger sind zwei
junge, attraktive Frauen zu sehen, ein Hinweis auf
die weiblichen Begleiterinnen, mit denen sich der Ge-
suchte umgibt. Im Vordergrund ist ein blutiger Tatort
zu besichtigen, mit allem, was dazugehört: durch-
löcherte Autoheckscheibe, ein Toter, Polizisten. Weyr
hat, das lässt sich am Beispiel dieser letzteren Sze-
ne eindeutig nachweisen, die Bildvorlagen aus dem
Kuckuck-Archiv genommen. Das Foto des Mordes auf
offener Straße hat er bereits 1931 im Kuckuck veröf- fentlicht, in einem Bildbericht zum Thema „Straßen-
leben in Neuyork“.19
Das dramatische Finale des Falles sollte wenige
Wochen nach dieser Darstellung stattfinden. Am
22. Juli 1934 verlässt Dillinger zusammen mit zwei
Frauen eine Kinovorstellung in Chicago und wird von
drei Kugeln der Polizei tödlich getroffen. Eine der bei-
den Frauen hat ihn verraten.
Wenige Monate nach der politischen „Neugrün-
dung“ im Frühjahr 1934 wird die Bunte Woche ein
weiteres Mal umgestaltet. Am 22. Juli 1934 wendet
sich die Redaktion an die Leser und kündigt die an- Abb.
7 „Dillinger“. Foto-
montage Siegfried
Weyrs zu
einem bekannten Kriminalfall
der 1930er Jahre in den USA.
Der
Bankräuber John Dillinger
wird durch
spektakuläre
Gefängnisausbrüche und sein
Katz-und-Maus-Spiel mit
der
Polizei bekannt. Bunte Woche,
13.
Mai 1934, S.
16.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang