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205Vom
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Dingen, die Leser und Fotografen Tag für Tag umge-
ben. Nun werden Geschichten in Fotografien erzählt,
die bis vor Kurzem noch nicht als bildwürdig galten:
ein Schultag etwa, ein Besuch im Krankenhaus, das
Leben und Arbeiten eines Hausmeisters, die Arbeit
im Büro, Vergnügungen im Park, seltsame Sammel-
leidenschaften mancher Menschen oder ein Tag auf
dem Flohmarkt. Der sachliche, der Wirklichkeit zuge-
wandte Blick verbindet sich oft mit einer poetischen
Sicht auf die Dinge. Auf diese Weise rückt die neue
Form der Reportage, die sich gelegentlich durch ihre
subjektive, flanierende Bildsprache auszeichnet, oft
in die Nähe des Feuilletons. Der fulminante Aufstieg
der modernen Fotoreportage um 1930 hat aber auch,
so argumentiert Ulrich Keller, mit der erfolgreichen
Fusion bisher getrennter Bilddiskurse zu tun.7 In gut
gemachten Reportagen verschwimmen Nachricht, Un-
terhaltung, spannende Erzählung, oft auch Werbung
und Propaganda zu einer neuen Bildgattung.
Aus der Sicht des Fotografen Rübelt spielt bei der
Neukonzeption der Reportage die Technik eine wich-
tige Rolle. Er erwähnt die kleinformatige Leica, mit
der er seit 1929 arbeitet. Tatsächlich kommt in den
1920er Jahren eine ganze Reihe von neuen Kame-
ras auf den Markt, die einen Einfluss auf die Form
der Bildberichterstattung haben. Zwar fotografieren
immer noch viele Pressefotografen mit den bisher
verwendeten großformatigen (13 × 18 cm) Plattenka-
meras, etwa der ICA-Record oder der Deckrullo-Net-
tel, aber nach und nach greifen sie auch zu klein-
formatigen, lichtstarken Kameras, die sie oft parallel
zu ihren herkömmlichen großformatigen Apparaten
einsetzen. 1924 kommt etwa die Ermanox der Firma
Ernemann mit einem Plattenformat von 4,5 × 6 cm auf
den Markt, ein Jahr später, 1925, die Leica, die einen
beidseitig perforierten 35-mm-Kinofilm als Aufnah-
mematerial verwendet (mit einer Negativgröße von
24 × 36 mm). Seit 1929 wird die Mittelformatkamera
Rolleiflex angeboten, die ebenfalls mit Rollfilm aus-
gestattet ist und die in den 1930er Jahren für viele
Lichtbildner zur beliebten, weil bedienungsfreund-
lichen Reportagekamera wird. Ab 1932 schließlich
bringt das Dresdner Unternehmen Zeiss die Kleinbild-
kamera Contax auf den Markt, die in den 1930er Jah-
ren als Konkurrenzprodukt zur Leica gedacht war. 8
zu verpflanzen.“5 Tatsächlich hat Lothar Rübelt der
erzählenden Bildgeschichte in der österreichischen
illustrierten Presse wichtige Impulse gegeben. Aber
er ist nur einer von mehreren Fotoreportern, die um
1930 beginnen, Fotoserien für geschlossene Reporta-
gen zu liefern, die nun als Fotoreportagen bezeichnet
werden. All diese Fotografen beginnen keineswegs
bei null, sondern nehmen die Erfahrungen ihrer Vor-
gänger auf. Die Form der Bildgeschichte ist nämlich
keine Erfindung der Zwischenkriegszeit, sondern,
wie wir gesehen haben, schon seit Längerem erprobt.
Bereits seit der Jahrhundertwende werden Bildrepor-
tagen in den Illustrierten veröffentlicht.6
Dennoch: Ende der 1920er Jahre gibt es einen kla-
ren Einschnitt in der Geschichte und Verwendungs-
weise der Fotoreportage. Mehrere Umstände ändern
sich: Zunächst ist es die Rolle und Position des Fo-
tografen. Dieser wird nun, unterstützt meist durch
den Text, zum – oft auch bewusst subjektiv vorge-
henden – Augenzeugen, der ein Ereignis nicht nur in
Einzelaufnahmen dokumentiert, sondern aus seinem
Blickwinkel in einer Bilderserie schildert. Er streift
nun immer öfter die Anonymität des bloßen Bildzulie-
ferers ab und tritt auf der Zeitungsseite selbstbewusst
auf. Sein Name wird immer öfter deutlich sichtbar
genannt. Stammten in den bisherigen Reportagen die
Bilder meist aus unterschiedlichen Quellen (mehre-
re Fotografen, Fotoagenturen), so liefert der Fotograf
nun häufig die gesamte Bildgeschichte. Er ist nicht
nur der Augenzeuge, sondern in gewisser Weise auch
der Erzähler der Geschichte, der in seinen Bildern
einen Überblick bietet, Details auswählt und Zusam-
menhänge herstellt.
Auch die Bildgeschichte selbst verändert sich nun.
An die Stelle von Themenseiten, die mit einfachen
Bildtableaus arbeiten, treten ab Ende der 1920er
Jahre allmählich komplexer gebaute, in sich abge-
schlossene, sich gelegentlich über mehrere Seiten
erstreckende Bildberichte, die meist einem kurzen
Handlungsstrang folgen. In den Fotoreportagen
werden auch neue Themen erschlossen. Die Bildge-
schichten wenden sich nun nicht nur herausragen-
den politischen und gesellschaftlichen Ereignissen
zu, den Sensationen der Woche also, sondern auch
den Facetten des Alltags, den Orten, Menschen und
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang