Seite - 208 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945

208 Erzählende Bilder · Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit Giftmordprozess, der am 13. und 14. Dezember 1929 im ungarischen Szolnok stattfindet. Angeklagt sind in diesem ersten Teilprozess vier von insgesamt 34 Frauen. Ihnen wird zur Last gelegt, in den letzten Jahren über 50 Menschen vergiftet zu haben.21 Das Ereignis ist von einem gewaltigen Medienecho beglei- tet. Sogar die renommierte Berliner Illustrirte Zeitung schickt im Sommer 1929 einen eigenen Fotoreporter, um über die Festnahmen und den aufsehenerregen- den Fall zu berichten. Die Bilder, die am 8. August 1929 veröffentlicht werden (Abb.    5), stammen vom gebürtigen Ungarn Martin Munkácsi, der seit zwei Jahren in Berlin lebt. Am 14. Dezember 1929 werden die Urteile ver- kündet. Der Reporter der Wiener Neuen Freien Presse hält diesen entscheidenden Augenblick fest. „Nach zweistündiger Beratung erscheint der Gerichtshof um 6 Uhr 20 Minuten wieder im Saal. Die Angeklagten werden hereingeführt, sie bleiben unbeweglich mit verschränkten Händen vor der Anklagebank stehen. Hinter ihnen in Habachtstellung die vier Justizwach- leute. Unter atemloser Spannung des Auditoriums verkündet der Vorsitzende das Urteil (…).“22 Reporter und Fotografen aus zahlreichen Ländern finden sich im Gerichtssaal ein, um die ersten Rich- tersprüche zu dokumentieren. Auch Lothar Rübelt sitzt im Kreis der Journalisten. Er ist mit zwei Kame- ras angereist. Neben seiner Leica schafft er eigens für dieses Ereignis eine lichtstarke Kleinglasplatten- kamera der Firma Ernemann, eine Ermanox mit dem Negativformat 4,5 × 6 cm an, die besonders für die In- nenaufnahmen geeignet ist. „Bei der Schwere der Ver- brechen“, erinnert er sich, „war mit Todesurteilen zu rechnen, und so wollte ich die Wirkung auf die betrof- fenen Bäuerinnen im Augenblick der Verkündigung festhalten. Da ich kein Wort Ungarisch verstand, bat ich einen Deutsch sprechenden Journalisten, bei den Worten ‚zum Tode‘ mit dem Bleistift auf das Pult zu klopfen. Das funktionierte bestens – aber die Wirkung war null! Die harten Gesichter der Bäuerinnen unter ihren Kopftüchern blieben unbewegt – es gab kei- nen ‚richtigen‘ Augenblick. So blieb mir nur übrig, Abb.  6  Fotoreportage  Lothar  Rübelts  über  den  Prozess  gegen  die  Giftmörderinnen  im  ungarischen  Szolnok.  Das in- teressante Blatt,  19.  Dezember  1929,  Titelseite. Abb.  7  Prozess  gegen  die  ungarischen  Giftmörderinnen:  Zeugen,  Staatsanwalt,  Ver- teidiger  und  ganz  unten  die  Angeklagten  während  des  Ur- teilsspruchs.  Das interessante Blatt,  19.  Dezember  1929,  S.  5.  Fotos:  Lothar  Rübelt.