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219Gallspach,
Mekka der Kranken
der 1930er Jahre ist aus dem armen Bauerndorf ein
reicher Kurort geworden. Etablierte Mediziner fällen
vernichtende Urteile über den Wunderheiler, dieser
antwortet mit Klagen, Zeileis wird zum „Fall“ – und
zum Thema für die Presse. Ende 1929 beginnen die
Medien in großer Aufmachung über Zeileis zu be-
richten. Über 700 Artikel erscheinen allein 1930 in-
nerhalb weniger Monate in der österreichischen und
ausländischen Presse. „Der Fall Zeileis“, resümiert
der österreichische Schriftsteller und Journalist Soma
Morgenstern Ende 1930 in der Frankfurter Zeitung, „ist
nun in aller Öffentlichkeit die Sensation geworden, die
er auch ohne ‚Öffentlichkeit‘ schon lange gewesen ist.
Und als gälte es nun, das mehr oder weniger heimlich
versäumte Interesse von bald einem Jahrzehnt einzu-
holen, konzentriert sich das Munkeln vieler Jahre zum
Gespräch des Tages. Legt man das Ohr an die Balken-
lettern der österreichischen Presse, kann man sogar
hören, wie das Gespräch des Tages sich allmählich
zum Geschrei der Wochen auszuwachsen anhebt.“38
Am 23. Februar 1930 bringt die Münchner Illus-
trierte Presse eine Fotoreportage von Wolfgang Weber
über Gallspach (Abb.
18, 19).39 Auf insgesamt drei
Bildseiten und einer zusätzlichen Textseite berichtet
der Fotograf, der zugleich auch den Text liefert, über
den Ort und den Fall Zeileis. Schon der Untertitel
deutet darauf hin, dass die Reportage den Anspruch
erhebt, eine geschlossene Erzählung zu liefern: „Der
Roman eines oberösterreichischen Dorfes. Das mit
dem Zeileis’schen Heilverfahren über Nacht Weltruf
erlangte.“ Der Begriff „Roman“ steht hier für die Form
der Erzählung und kennzeichnet nicht etwa deren In-
halt als Fiktion. Denn gleich am Beginn verbürgen
die Fotografien und die grafisch in die Bildgeschichte
eingefügten dokumentarischen Fundstücke (die Zähl-
karte für „eine Behandlung“, ein Zeitungsausriss)
den Wirklichkeitsgehalt des Berichts. Der Fotograf
und Autor Wolfgang Weber, um 1930 einer der be-
kanntesten deutschen Reportagefotografen40, wird zu
Beginn des Berichts nicht nur namentlich, sondern
sogar mit eigenhändiger Unterschrift eingeführt. Er
ist der prominente Augenzeuge, dessen persönliche
Handschrift den Text und die Bilder prägt.
Weber führt nicht als distanzierter Beobachter in
die Geschichte ein, sondern er beginnt die Erzählung mit einem sehr subjektiven Stimmungsbericht: „Man
spürt die seltsame Atmosphäre schon ein paar Kilo-
meter vor Gallspach. Der Wagen holpert über Hügel
den schmalen Feldweg entlang, Lastwagen begegnen
dir, kaum kannst du ihnen ausweichen, Personenwa-
gen, kleine, große, Großstadtverkehr auf einer Stra-
ße, die einmal für ein paar Ochsenkarren bestimmt
war. Menschen drängen sich zwischen den Autos,
sie kommen von der Behandlung. Eine alte Frau wird
auf dem Stuhl gefahren, ein junger Mensch neben
ihr geht auf Krücken … und auf einmal packt dich die
entsetzliche Erkenntnis: das sind ja alles Schwerkran-
ke, die sich da hinschleppen, alles und ausnahmslos,
Menschen, denen man es ansieht, daß ihnen dieses
Gallspach letzte Hoffnung ist … Und obwohl man die
ganze Fahrt über wußte, daß der Weg zu einer Stadt
der Kranken führt, fühlt man einen Augenblick etwas
wie Grauen in sich aufsteigen.“41
Erst jetzt, nach dieser persönlich gehaltenen Ex-
position, wird der Ort vorgestellt. „Ein paar hundert
Meter weiter: Gemeinde Gallspach. Der Weg wird
nahezu unfahrbar. Gräben werden gezogen, Rohr-
leitungen gelegt. Zwischen den Arbeitern drängen
sich Einheimische und Patienten. Hinter Kieshaufen
strecken sich Gerüste und Neubauten, über Nacht
aus dem Boden emporgeschossen. Plakate vermie-
ten Zimmer, die noch nicht gebaut sind, Plakate an-
noncieren Bestrahlungsapparate und Tanz. Drüben
wächst der Block des Kurhotels unvermittelt aus dem
Boden; man kann noch nicht bis vor die Tür fahren,
aber die Zimmer sind schon alle besetzt. Aus der Fer-
ne aber winkt ein riesiger Glasbetonbau: das neue
Behandlungshaus.“42 Und weiter schreibt Weber,
wieder zum subjektiven Blickwinkel zurückkehrend:
„In diesem Durcheinander eines sich überstürzenden
Werdens liegt still, abgezirkelt, die Welt der Kranken.
In keinem Kurort sah ich so viele Kranke, die wirk-
lich Heilung suchten, so viele Menschen voll echter
Verzweiflung, die hundertmal enttäuscht, sich an
diese letzte Hoffnung klammern. Nirgends sah ich
soziale Gegensätze vor dem gemeinsamen Leiden
so völlig verwischt, traf ich Menschen, die an nichts
anderes dachten als an Gesundheit und vielleicht da-
ran, sich gegenseitig ein wenig zu helfen, der Blinde
dem Lahmen, der Schwache dem Gebrechlichen. Vor
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang