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221Gallspach,
Mekka der Kranken
direkt unter dem Zeitungskopf mit der breiten, längst
schon anachronistisch erscheinenden Titelvignette,
mit einer beeindruckenden Nahaufnahme (Abb.
20).
Ein krankes Kind wird in eisiger Winterkälte in ei-
nem Wäschekorb mit Schubkarren zum Zeileis’schen
Institut transportiert. Darüber prangt der Titel des
Berichts: „In Gallspach.“ Auf der folgenden Doppel-
seite (Abb.
21) werden Zeileis, sein Institut und der
Andrang der Kranken präsentiert. Erst ganz zum
Schluss findet sich eine Überblicksaufnahme des Or-
tes Gallspach. Im Unterschied zur Reportage in der
Münchner Illustrierten Presse ist die Gestaltung hier
unruhiger, die Bilder erscheinen etwas wahllos in die
immer wieder unterbrochenen Textspalten gesetzt.
Dadurch ist der innere Zusammenhang der Bildge-
schichte abgeschwächt, die Erzählung erscheint weit
weniger geschlossen.
Während Weber der Reportage bewusst eine sehr
persönliche, subjektive Färbung verleiht, ist der
Tonfall des Textes im Interessanten Blatt nüchterner,
distanzierter. „Nichts“, so beginnt der Bericht, „steht
momentan mehr im Brennpunkt der Öffentlichkeit
als Valentin Zeileis, der Wunderdoktor von Gallspach,
und seine Kuren. Es soll hier nicht für oder gegen
Stellung genommen sein, sondern nur rein tatsachen-
gemäß berichtet werden. Feststehend und unzweifel-
haft ist jedenfalls, daß im Monat Tausende und aber
Tausende nach Gallspach pilgern, um dort im Mekka
aller Siechen und Kranken, ihre vermeintliche Hei-
lung zu suchen – und nicht zum kleinsten Teil auch
finden; aber es ist ebenso feststehend und unzweifel-
haft, daß die gesamte wissenschaftliche Welt (...) das
Ganze als einen Schwindel und eine Massensugge-
stion erklärt.“47
Der direkte Vergleich beider Reportagen zeigt,
dass die Wiener Variante um einiges konventionel-
ler ausfällt. Das liegt nicht so sehr an den Bildern,
die in ihrer Qualität durchaus vergleichbar sind. Der
Einstieg mit der Kinderszene im Interessanten Blatt
ist mindestens ebenso überzeugend wie die langsame
Annäherung in mehreren kleineren Bildern in der
Münchner Illustrierten Presse. Die Defizite des öster-
reichischen Blattes haben vielmehr mit der deutlich
schlechteren Seitengestaltung, den weniger originel-
len grafischen Lösungen und der sehr losen Verbin- dung zwischen Text und Bildern zu tun. Während
Webers Reportage sogar im Untertitel als geschlosse-
ne Erzählung („Roman“) deklariert und die Rolle des
„Autors“ als Fotograf und Erzähler gleich am Beginn
deutlich sichtbar eingeführt wird, kommt die Wiener
Reportage ohne diese Figur des Augenzeugen aus.
Die beiden Fotografen Ernst und Cesˇanek werden
nicht als zentrale bildliche Erzähler vorgestellt, son-
dern lediglich am unteren Bildrand (und in kleinem Abb.
20 Fotoreportage über
den Wunderheiler
Valentin
Zeileis in Gallspach. Das inter-
essante Blatt, 27.
Februar 1930,
Titelseite. Fotos: Leo
Ernst und
Fred Cesˇanek.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang