Seite - 224 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
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224 Erzählende Bilder · Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit
schildern, welche Folgen der wirtschaftliche Abstieg
der Steyrwerke für den Ort hat. Im Vorspann heißt
es: „Neben Budapest war Steyr der Waffenlieferant
der österreichisch-ungarischen Armee. Der Friedens-
vertrag von St. Germain verbot Österreich die Waf-
fenerzeugung. Die Werke stellten sich nach dem
Kriege auf andere Fabrikationszweige, besonders
auf den Automobilbau um. Diese anfangs blühende
Industrie ist nun durch die Krise auf dem Weltmarkt
und den Zusammenbruch der österreichischen Bo-
denkreditanstalt zum Erliegen gekommen. Tausende
Arbeiter sind brotlos geworden.“53 Die Fotos von Felix
H. Man dokumentieren vor allem die soziale Not, in
die eine ganze Stadt geraten ist, die steigende Anzahl der Arbeitslosen, die Barackensiedlungen, in denen
jene leben, die ihre Mieten nicht mehr zahlen kön-
nen. Eine besonders beeindruckende Aufnahme zeigt
einen winzigen Wohnraum, in dem eine Familie mit
sieben Kindern lebt.
„Von den 27 000 Menschen“, schreibt Tschuppik,
„hatten 17 000 in den Steyr-Werken Beschäftigung;
heute arbeiten dort 1700. Die Stadt stirbt. (…) Die
Menschen von Steyr sind Gefangene ihres Elends,
Opfer eines unerbittlichen Gesetzes, das Politik und
Wirtschaft diktieren. Was wird aus dieser Stadt? Die
Bilder zeigen den Grad der Not, den stumm geworde-
nen, sich fatalistisch ergebenden Jammer. Die Berich-
te von Steyr haben wohl die Welt aufhorchen lassen;
es gab auch rührende Beweise von Hilfsbereitschaft,
doch die Existenz einer ganzen Stadt lässt sich nicht
auf Mildtätigkeit aufbauen. Die Stadt stirbt. Die Ge-
meinde muß die Schulen schließen, weil sie keine
Kohle, die Kinder keine Schuhe und Kleider haben.
Sie wird die Beamten entlassen, weil sie die Gehälter
nicht zahlen kann. Sie hat ihr Krankenhaus an den
Staat verkauft, weil die Mittel fehlen, es zu erhalten.
Der landschaftliche Reiz der Stadt, am Zusammenstoß
zweier Flüsse zu liegen, wird ihr zum Unheil: sie kann
die Brücken nicht mehr in einen brauchbaren Zustand
setzen. Sie muß sich auf das Allernotwendigste be-
schränken. Das heißt: täglich 11 000 Menschen ein
Stückchen Brot und einen Napf Suppe zu geben.“54
Ein Jahr später, Anfang Januar 1932, bringt auch
Das interessante Blatt eine Fotoreportage über Steyr.
Sie scheint den Titel „Die sterbende Stadt“ dem Bild-
bericht der Münchner Illustrierten Presse entlehnt
zu haben. Der Bericht beginnt auf der Titelseite mit
einer Aufnahme des „Sonderberichterstatters Lothar
Rübelt“55, die die Auszahlung der Arbeitslosenunter-
stützung im Gemeindeamt zeigt (Abb.
23). Darunter
lesen wir: „Im Bürgermeisteramt der Gemeinde wer-
den Arbeitslose aus allen Kreisen der Bevölkerung
mit Geldbeträgen von zwei bis drei Schilling für Un-
verheiratete und fünf bis sechs Schilling für Verheira-
tete fallweise unterstützt; 53 Prozent der Bevölkerung
leben nur von den Geld- und Nahrungsmittelaushil-
fen der Gemeinde.“56 Auf der folgenden Seite wird in
den Bildern vor allem die dramatische soziale Situati-
on in der Stadt dargestellt (Abb.
24). Gezeigt werden
Abb.
23 „Die sterbende
Stadt“.
Fotoreportage von
Lothar Rübelt über
Steyr. Das
interessante Blatt, 7.
Januar
1932, Titelseite.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang