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Bildgeschichten ohne Worte
tum und Landleben. Auch von Perckhammer dient
sich dem NS-Regime willig an. Neben nüchtern-sach-
lichen Werbeaufnahmen (u. a. für die deutsche Mode-
und Gesellschaftszeitschrift die neue linie) macht er
ab Mitte der 1930er Jahre auch gefällige Genreauf-
nahmen, etwa von knorrigen Tiroler Bauern oder
ländlichen Trachtenszenen. Solche Motive passen in
den 1930er Jahren sehr gut in das zunehmend kon-
servativer werdende politisch-gesellschaftliche Klima
in Österreich.
Dass gemäßigte Moderne, innovative Gestaltung
und konservative politische Grundhaltung gut verein-
bar sind, zeigt eine zweiseitige Fotoreportage Lechen-
pergs, die im Mai 1934 in der Zeitschrift Moderne
Welt erscheint (Abb.
29).71 Sie trägt den Titel „Kärnt-
nerstraße 11 bis 1 Uhr“ und fängt die elegante und
entspannte Atmosphäre der wichtigsten Wiener Ge-
schäftsstraße um die Mittagszeit ein. Ihren besonde-
ren Reiz bezieht diese Inszenierung daraus, dass vie-
le der Figuren, spazierende Frauen, Kinder auf dem
Heimweg von der Schule, Geschäftsleute, Taxifahrer
usw., grafisch freigestellt sind und auf dem Weiß der
Zeitungsseiten geradezu zu schweben scheinen. Zu-
sammengehalten werden all diese isolierten Szenen
durch einen launigen Text, der die Protagonisten wie
auf einer Bühne zusammenführt. „Nirgends“, so heißt
es zu den Bildern, „ist der Kontakt zwischen den
Menschen so schnell gefunden, nirgends trifft sich
so jeder mit jedem, wie in der Kärtnerstraße.“72 Das
Fazit lautet: „Der ganze Zauber, der diesem Wien im-
mer nachgerühmt wird, die ganze Harmlosigkeit und
Fröhlichkeit seiner Einwohner scheint in dieser Stra-
ße konzentriert und zur Schau gestellt. Und jeder, der
in diese helle Straße einbiegt, muß mit, muß für fünf
Minuten seinen grauen Alltag vergessen, muß sich den
vielen fröhlichen Gesichtern, dem zwanglosen Rhyth-
mus anpassen. Ein großer Film wird da zwischen 11
und 1 gedreht und sowohl der Verkehrsschutzmann
wie ein beliebiger Dienstmann spielen mit. Und alle
Rollen sind gut besetzt und die Leitung scheint in den
Händen eines großen begabten Regisseurs zu sein.“73
Als diese Reportage im Mai 1934 erscheint, ist
Österreich soeben zur Diktatur geworden. Wenige
Monate zuvor, im Februar 1934, wurde in einem
Bürgerkrieg die linke Opposition ausgeschaltet, am 1. Mai wird die Republik auch formal abgeschafft
und durch eine neue „ständestaatliche“ Verfassung
ersetzt. Lechenperg, der die blutigen Ereignisse im
Februar selbst erlebt und darüber sogar exklusiv in
der Berliner Illustrirten Zeitung berichtet hat74, blendet
diese Vorgeschichte vollkommen aus und zeichnet in
seiner Reportage bewusst ein friedliches, harmoni-
sches Bild von Wien. Er stellt das noch vor Kurzem
sozialdemokratische Wien am Beispiel der Kärntner
Straße als Bilderbuchstadt zauberhafter Heiterkeit
und Gelassenheit dar. Die angebliche „Harmlosigkeit
und Fröhlichkeit seiner Einwohner“ will vergessen
machen, dass hinter dieser Fassade der Unbeschwert-
heit ein neues Regime mit eiserner Gewalt herrscht.
Es ist kein Zufall, dass die Doppelseite in der Moder-
nen Welt erscheint, die seit Anfang der 1930er Jahre
einen immer konservativeren Kurs steuert und das
neue austrofaschistische Regime offen unterstützt.
Bildgeschichten ohne
Worte
Einen eigenen, sehr selbstständigen Stil in der
Fotoreportage der 1930er Jahre entwickelt Robert
Haas. Er ist einer der wichtigsten Mitarbeiter der
1934 gegründeten illustrierten Wochenzeitung Der
Sonntag, für die er regelmäßig Reportagen zusam-
menstellt.75 Aber auch in anderen Zeitschriften
macht sich seine grafische und fotografische Hand-
schrift bemerkbar. Der ausgebildete Grafiker und
Typograf,76 der erst Anfang der 1930er Jahre beruf-
lich zur Fotografie stößt, ist einer der wenigen Foto-
grafen, die ein gewichtiges Wort bei der Gestaltung
mitzureden haben. Er hat selbst Erfahrung in der
Zeitschriftengestaltung77 und experimentiert gerne
auch mit fotografischen Mitteln. Anfang August 1935,
rechtzeitig zu den Salzburger Festspielen, stellt Haas
für die Zeitschrift Die Bühne eine Art Fotoreportage
zusammen, die – außer dem Titel und dem Hinweis
auf den Fotografen – ganz ohne redaktionellen Text
auskommt (Abb.
30). Die Bildgeschichte mit dem
Titel „Alle Straßen führen nach Salzburg“ wirft einen
ungewohnten Blick auf die Festspielstadt Salzburg.
Ihr internationales Flair wird anhand eines Tableaus
von Kfz-Länderkennzeichen vorgeführt, die auf der
Doppelseite wie wild zusammengewürfelt erscheinen.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang