Seite - 251 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Bild der Seite - 251 -
Text der Seite - 251 -
251Das
Fotoprogramm des Kuckuck
Daß sie um sich blicken, ihren Alltag sehen und ihn
mit Hilfe der Linse bildnerisch gestalten. Wir wollen
das Schöne bringen, wo immer es sich befindet. Es sei
nur schlagwortartig angedeutet, was für Themen wir
gerne behandelt sehen möchten: Die Arbeitsstätte,
die Arbeit, der tägliche Weg, das Heim, die Straße,
das Kind, den Körper, die Welt des Kleinen, Abseiti-
gen, den Gegenstand des täglichen Lebens, das Sozia-
le, usw. Landschaften möchten wir nur dann bringen,
wenn sie sich durch besondere bildhafte Wirkung
auszeichnen.“10 Der Kuckuck folgt mit diesem Wett-
bewerb, der in den folgen Monaten und Jahren immer
wieder ausgeschrieben wird, einer Strategie der deut-
schen kommunistischen Arbeiter-Illustrierte Zeitung
(AIZ), die im März 1926 erstmals einen Fotowettbe-
werb für Arbeiterfotografen ausgelobt hatte (Abb.
3).
Es ist erklärtes Ziel der AIZ, „die bürgerlichen Presse-
Photo-Korrespondenzen fast völlig auszuschalten und
durch proletarische Aufnahmen, die das Leben des
Proletariats wiedergeben, zu ersetzen.“11
In der redaktionellen Praxis des Kuckuck ist – wie
auch bei der AIZ – dieses Ziel nicht zu verwirklichen.
Für die tägliche Berichterstattung muss die Zeitung
auf Agenturbilder und die Aufnahmen klassischer
(auch bürgerlicher) Pressefotografen zurückgreifen.
Aber die Fotowettbewerbe, die sich dezidiert an die
organisierten Arbeiterfotovereine wenden, versorgen
die Redaktion mit Bildmaterial, das für nicht aktuel-
le Themen verwendet werden kann. Die prämierten
Arbeiten der Kuckuck-Wettbewerbe werden in der
Zeitung veröffentlicht und den Fotografen wird ein
Honorar von fünf Schilling pro Bild in Aussicht ge-
stellt. Hinter dieser Initiative steht der verantwort-
liche Redakteur des Kuckuck, Siegfried Weyr. Sein
Anliegen ist es, die Illustrierte mit neuen, anderen
Bildern auszustatten, die näher an die Wirklichkeit
der Arbeiter heranführen. Natürlich will er mit diesen
Aufrufen auch die Abhängigkeit von den kommerzi-
ellen Fotoagenturen verringern. Und schließlich ist
es sein Ziel, erzieherisch tätig zu werden, indem das
Blatt den Arbeiterfotografievereinen eine publizisti-
sche Plattform bietet und „gute“, „gelungene“ Bilder
in der Öffentlichkeit präsentiert.12
Als positives Beispiel einer Arbeiterfotografie
erscheint im April 1930 eine Aufnahme von Ernst Kleinberg (Abb.
4). Im Bildtext heißt es: „Lichtbild-
kunst der Arbeiterphotographen: Der Polizeistaat“.13
Zu sehen sind die Hinterteile zweier Pferde. Auf die-
sen sitzen, im Bild angeschnitten, zwei Polizisten.
Weyr scheint an diesem Foto die Kombination von
Bildwitz (das Pferdehinterteil steht für die Institution
der Polizei) und politischem Kommentar überzeugt
zu haben. Dieser besteht darin, dass ein Detail – zwei
Polizisten auf ihren Pferden –, durch den Bildtext ge-
leitet, ironisch-kritisch auf ein komplexeres Ganzes Abb.
3 „An der
Drehbank“.
Bildbeispiel aus dem Fotowett-
bewerb für Arbeiterfotografen.
Arbeiter-Illustrierte Zeitung,
Nr.
8, März 1926, Titelseite.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang