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265Unerfülltes
Begehren
Arzt – ein Amerikaner – sitzt im Vordergrund einer
erotisch-schlüpfrigen Szene. Seine Augen sind sehn-
süchtig in die Ferne gerichtet – nach Wien. Seine
Erinnerung schweift, dies suggeriert der Bildtext,
zurück nach Österreich, in seine Studienzeit, in der
er ein ausschweifendes Leben geführt hat. Eine gan-
ze Schar spärlich bekleideter, aufreizender junger
Frauen tritt auf, die ihm damals in Wien willig ihre
sexuellen Dienste angetragen haben. Gewiss, das Bild
Unerfülltes Begehren
In den späten 1920er Jahren gilt Amerika als ge-
lobtes Land des Wohlstands, des Fortschritts und der
Freiheit. Importiert wird alles, was noch wenige Jahre
zuvor in Österreich unbekannt oder gar geächtet war:
luftgefüllte Autoreifen und leicht bekleidete Tiller
Girls, Jazz und Boxkämpfe, imposante Hollywoodstrei-
fen und in den Himmel wachsende Hochhäuser. Aber
auch unerhörte technische Fortschritte kommen aus
Amerika. Ende Mai 1927 etwa gelingt Charles Lind-
bergh der erste Nonstop-Flug von New York nach Pa-
ris. Er wird in Europa stürmisch gefeiert. Nur zwei
Wochen später glückt dem amerikanischen Piloten
Clarence Chamberlin erstmals ein Passagierflug
über den Atlantik. Am 6. Juni landet seine Maschi-
ne in der Nähe von Berlin, wo er und sein Fluggast
Charles Levine begeistert empfangen werden. Als sie
später nach Wien weiterfliegen, schlägt ihnen auch
hier Jubel entgegen. Das interessante Blatt widmet
den beiden Amerikafliegern Chamberlin und Levine
die Titelseite. Im Radio – auch dieses ist eine amerika-
nische Errungenschaft – wird vom Flughafen Aspern
live über die Ankunft der beiden Pioniere berichtet.
Ende der 1920er Jahre scheint die Amerikabegeis-
terung in Österreich keine Grenzen zu kennen. Und
dennoch: Der reale Kulturimport hinterlässt weit weni-
ger Spuren als der vorgestellte. Amerika ist in diesen
Jahren eine große Projektionsfläche, die weit mehr
über die kollektiven Sehnsüchte und Ängste im eige-
nen Land erzählt als über die Wirklichkeit jenseits des
Atlantiks. Faszination und Widerwillen, Amerikatau-
mel und Amerikatadel gehen in diesen Jahren Hand
in Hand. Die Amerikabegeisterung trägt im Kern den
Antiamerikanismus bereits in sich. Der eine ist ein
verzerrtes Spiegelbild des anderen.
In der Bildwelt der Illustrierten der Zwischen-
kriegszeit kommt diese zwiespältige Amerikafaszi-
nation sehr deutlich zum Ausdruck. Wie mehrdeu-
tig, komplex und untergründig dieser kollektive
Traum ist, zeigt eine Fotomontage, die 1933 in der
anzüglich-humoristischen Zeitschrift Die Muskete er-
scheint (Abb.
4). Sie trägt den Titel: „Ein junger ame-
rikanischer Arzt denkt noch oft und gerne an seine
Studienzeit in Wien.“3 Der gut gekleidete, attraktive Abb.
4 „Ein junger amerika-
nischer Arzt denkt noch oft
und
gerne an seine Studienzeit
in Wien.“ Fotomontage in der
anzüglich-humoristischen
Zeitschrift Die Muskete, Nr.
12,
1933, S.
222.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang