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271Amerika
in Wien: das erste Hochhaus
grund tanzen zwei lasziv anmutende, elegante jun-
ge Frauen eng umschlungen. Im Hintergrund spielt
ein sehr viel kleinerer schwarzer Musiker. Wenige
simple zeichnerische Attribute reichen, um aus ihm
das Inbild eines „Negers“ zu machen: runder Kopf,
leuchtende weiße Augen, große wulstige rote Lippen.
Die Szene trägt den Titel: „Die Auslandsdeutsche“.
Eine der beiden Frauen wird im Bildtext als Deutsche
vorgestellt, die nach Österreich kam, um hier weiter
ihrer in Deutschland verbotenen Leidenschaft frönen
zu können. „Ich war gezwungen auszuwandern, in
Deutschland haben sie ja die Jazz (sic!) verboten.“
Die augenzwinkernde Anspielung auf die natio-
nalsozialistische Machtübernahme, die anscheinend
nur der Lebensfreude der einen Dame Abbruch tut,
wirkt angesichts der realen politischen Ereignisse in
Deutschland ein wenig deplatziert. Österreich ist im
April 1933 zudem keineswegs ein Hort der Freiheit.
Wenige Wochen zuvor ist das Parlament ausgeschal-
tet worden, Kanzler Dollfuß regiert nun mit Ermäch-
tigungsgesetzen. Der Jazz wird in den folgenden
Jahren zwar nicht verboten, aber die österreichische
Amerikabegeisterung hat 1933 ihren Zenit bereits
überschritten.
Amerika in
Wien: das
erste Hochhaus
Am 28. Mai 1930 wird in New York das Chrysler
Building eingeweiht. Der spitz nach oben zulaufen-
de Bürohausturm mit seinen 319 Metern Höhe ist zu
diesem Zeitpunkt das höchste Gebäude der Welt. Der
Bau sticht aus der imposanten Skyline Manhattans
mit ihren zahlreichen neu errichteten Wolkenkrat-
zern heraus. Das Chrysler Building als Paradebeispiel
des modernen Hochhauses wird bald zu einer Chiffre
für Amerika, zu einem Symbol für einen unaufhaltsa-
men Aufstieg und Fortschritt.
In Wien, das zu dieser Zeit noch kein Hochhaus
hat, werden die neuesten amerikanischen Wolken-
kratzerbilder in den Illustrierten, aber auch auf Post-
karten begierig aufgenommen. Und sehr zaghaft wird
diese neue Architektur auch in die Praxis umgesetzt.
Im April 1931 wird mit dem Bau des ersten Wiener
Hochhauses in der Herrengasse begonnen. Das Ziel
freilich ist im Vergleich zu New Yorker Bauten über- aus bescheiden: 16 Stockwerke und 50 Meter Höhe,
das soll in einer Stadt, die eben noch habsburgische
Residenz gewesen ist, vorerst reichen. Dennoch wird
das Emporwachsen des Stahlskelettbaus in der Öf-
fentlichkeit gebührend gefeiert. Bereits im Herbst
1931, wenige Monate nach Baubeginn, stellt Otto
Skall, ein Wiener Vertreter der fotografischen Moder-
ne, für die Zeitschrift Die Bühne eine Fotoreportage
über den für Wien ungewöhnlichen Hochhausbau
zusammen.8 Ein Bild aus dieser Serie findet ein gu-
tes Jahr später Eingang in das Jahrbuch Das öster-
reichische Lichtbild (Abb.
9). Die diagonal von unten
aufgenommene Szene zeigt einen Arbeiter inmitten
des entstehenden Stahlgerippes. Den Horizont, also
die Dächer der Wiener Altstadt oder die nur einen Abb.
9 Der Bau des ersten
Wiener Hochhauses in der
Herrengasse, Herbst 1931. Die
in Untersicht
aufgenommene
Szene blendet die
umgebende
Altstadt bewusst aus. Das ös-
terreichische Lichtbild, Jahrbuch
1933, hg.
vom Verband
der
österreichischen Amateur-
photographenvereine
in Wien,
Wien, Troppau,
Leipzig 1933,
Tafel 71. Foto: Otto
Skall.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang