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273Lichter
der Großstadt
wohl wissend, dass die Realität nüchterner aussieht.
Das Bild markiert eine Art Wendepunkt der Amerika-
begeisterung. Nach 1933 weicht das unbekümmerte
Staunen über die modernen Phänomene der Groß-
stadt immer öfter einer antiurbanen, kulturkritischen
Haltung.
Für die breite Masse der Bevölkerung ist Amerika
in der Zwischenkriegszeit ein diffuses atmosphäri-
sches Konglomerat von Eindrücken und Bildern. Da
kaum Bauprojekte nach amerikanischem Vorbild in
Wien realisiert werden, wird der architektonische
Geist der amerikanischen Metropole mit anderen Mit-
teln eingefangen. Ab Mitte der 1920er Jahre verleihen
Leuchtreklame-Schriften nach amerikanischem Vor-
bild der alten K.-u.-k.-Stadt zumindest in der Nacht
ein modernes Flair. Die sich schnell ausbreitenden
Werbeschriften zeugen davon, dass die karge Nach-
kriegszeit endgültig zu Ende ist.
„Blickt man spät abends vom Kahlenberg auf
die – keineswegs schlummernde – Stadt, so umgibt
sie eine leuchtende Aureole – die Spiegelung der
Lichtreklame“, schreibt der Journalist Alexander
Schilling 1928 in der Modernen Welt über das neue,
hell erleuchtete Wien bei Nacht.13 Und er fährt fort:
„Auch die Lichtreklame mit ihrer bunten, flammen-
den Aufdringlichkeit ist ein Zeichen unserer Tage, ein
Symptom fortschreitender Amerikanisierung. Wie
die mondäne Frau Schminke und Puder braucht, die
Augenbrauen nachzieht, künstlich das Auge dunkel
umschattet und auf die Lippen Rot auflegt, so liebt
nun auch die Madame Reklame bunte, leuchtende
Farben und strahlende Blitze. Alle Zurückhaltung,
alle Bescheidenheit sind verbannt. Das Veilchen
ist abgesetzt, die exotische Pracht der Orchidee be-
rauscht uns. Man will nicht im Schatten stehen, son-
dern im – Licht.“14
Schillings Feuilleton ist ein schönes Beispiel für
die Faszination, die von der modernen Großstadt aus-
geht. Der Autor erliegt dem Reiz der durch Werbe-
schriften erleuchteten Stadt. Zugleich aber erscheint
ihm die amerikanisierte Metropole auch als aufdring-
lich und gefährlich. Er vergleicht sie mit einer stark
geschminkten Frau und wahrt eine gewisse Distanz
zur „Madame Reklame“, jener „protzige(n) Dame, de-
ren Beruf es ist, aufzufallen und alle Blicke auf sich zu lenken“.15 Schillings Haltung ist typisch für die
österreichische Amerikabegeisterung der Zwischen-
kriegszeit. Diese erscheint, wenn es darum geht,
dem Vorbild nachzueifern, auffallend gebremst und
verhalten, nach dem Motto: ein wenig Amerika, aber
nicht zu viel.
Die „amerikanischste“ Straße Wiens ist in den
Augen von Schilling die Kärntner Straße „Hier pulst
das Leben der Großstadt in kondensierter Form. Die Abb.
11 Nächtliches
Wien.
Die Lichtreklame ist um 1930
die Signatur der modernen
Großstadt.
Die tanzenden
Leuchtschriften entstehen
durch Überlagerung mehrerer
Aufnahmen. Profil, Heft 9,
September 1933, Titelseite.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang