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274 Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls
Vertreter einer entschwundenen Epoche, die Träger
stolzer Namen, die Repräsentanten neuen Reichtums,
Hochstapler, mondäne Frauen, distinguierte Fremde,
Maitressen und Dirnen ein Spiegelbild der Großstadt.
Reichtum und Armut, Lust und Laster begegnen uns.
Und in gewissem Sinne kündet dies alles die Flam-
menschrift an der Wand.“16 Die Kärntner Straße als
Hauptschlagader des modernen, großstädtischen Le-
bens – dieser Gedanke ist nicht neu. Schon in der Zeit
der k. u. k. Monarchie gilt sie, zwischen Stephansdom und Ringstraße gelegen, als mondäne Einkaufsmeile.
Aber „amerikanisch“ ist die Kärntner Straße, die fast
ausschließlich von Gründerzeitgebäuden gesäumt ist,
ganz und gar nicht, auch nicht in der Zwischenkriegs-
zeit. Und dennoch: Zusammen mit der Mariahilfer
Straße wird die Kärntner Straße nun – zumindest
in der Nacht – mit den Mitteln der Lichtreklame ein
wenig „amerikanisiert“. Am Tag allerdings zerrinnt
dieses Traumbild wieder.
Ein Foto aus den frühen 1930er Jahren zeigt die
Kärntner Straße, wie sie, der Wirklichkeit zum Trotz,
dennoch unter amerikanische Vorzeichen gestellt
wird (Abb.
12). Die Aufnahme stammt von Nikolaus
Schwarz, einem talentierten Wiener Amateurfotogra-
fen, der sich dem „Neuen Sehen“ verpflichtet weiß.
Er hält das hektische Straßenleben aus erhöhter Per-
spektive fest. Der Blick fällt auf Autos und Passan-
ten, die in der Abendsonne lange Schatten werfen.
„Nicht Broadway – sondern Wiener Kärntnerstraße“,
lesen wir unter dem Bild. Die Kärntner Straße als
Broadway, das ist ein Gedankenexperiment, das nur
augenzwinkernd funktioniert. Und das sogleich zu-
rückgenommen wird.
Die andere Seite Amerikas
Ende der 1920er Jahre mischen sich zunehmend
amerikakritische Stimmen in die transatlantische
Begeisterung. Man unterstellt der amerikanischen
Kultur und ihren glitzernden Fassaden Seelenlo-
sigkeit und Oberflächlichkeit. Die politische Rechte
bringt rassistische Slogans in Stellung.17 Aber auch
aufseiten der Linken wird nun zunehmend mit den
USA abgerechnet. „Amerika“, heißt es im August
1929 in der österreichischen sozialdemokratischen
Illustrierten Der Kuckuck, „das bedeutet Kapitalis-
mus reinsten Wassers. Das heißt: Mammutvermögen
in einigen Händen vereinigt, heißt bisher höchste,
vollendete Zusammenballung des Nationalreichtums
in wenigen, den Staat und die Wirtschaft beherr-
schenden Trusten. Gigantische Fabrikanlagen, die
ihre Arbeiter nach Zehntausenden berechnen, wer-
den bündelweise aufgekauft, zentral dirigiert und zu
höchster arbeitsteiliger Nutzung angetrieben.“18 Das
Fazit lautet: „Dieses Amerika der Truste und Kartelle,
Abb.
12 „Nicht Broad-
way
–
sondern Wiener Kärnt-
nerstraße“. Die Bühne, Erstes
Aprilheft 1932,
S.
20. Foto:
Nikolaus Schwarz.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang