Seite - 276 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945

276 Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls der schlanke Turmriese zweifellos den ersten Preis erhalten“, heißt es im Bildtext. Der Begeisterung über dieses Wunderwerk der Technik wird aller- dings im Beitrag daneben sogleich Einhalt geboten. Zwar werde ein solches Mammutgebäude in drei bis vier Monaten errichtet. „Freilich die Arbeiter, die in schwindelnder Höhe Klettersteige aus Eisentraversen und Holzbalken nehmen müssen, die wie Sandsäcke zwanzig Stockwerke über dem Asphalt mit dem Kran von einem Gerüst zum anderen fahren, sind in stän- diger Lebensgefahr. Kein Wolkenkratzer wächst auf dem Neuyorker Boden auf, der nicht zuvor mit Blut gedüngt wurde …“20 Anfang der 1930er Jahre ebbt die Amerikabegeis- terung allmählich ab. Börsenkrach und Weltwirt- schaftskrise setzen dem optimistischen, zukunftsfro- hen Amerikabild zu. In Österreich tritt die heimische ländliche Idylle an die Stelle der urbanen amerika- nischen Sehnsuchtslandschaft. Die Wolkenkratzer weichen den heimatlichen Bergen. In der konserva- tiven Heimatideologie, die der „Ständestaat“ ab 1934 mit großem Aufwand kultiviert, ist für Amerika kein Platz mehr. Verirren sich doch einmal Amerikaner in den kleinen Alpenstaat, so künden sie nicht mehr von der großen, weiten Welt. Sie tauchen, so will es die Regierungspropaganda, nicht in der Großstadt Wien auf, sondern auf dem Land, in der entrückten, heilen Gebirgswelt. Im Sommer 1935 wird im entlegenen Tiroler Gebirgsort Ötz mit tatkräftiger öffentlicher Unter- stützung ein „Melker- und Landwirtschaftskurs für amerikanische Studentinnen“ eingerichtet, an dem, so heißt es in der Presse, 100 bis 150 junge Frauen aus den USA teilnehmen. „Außer den Lehrstunden, die amerikanische Professoren im Freien abhalten, werden die Hörerinnen in praktischer Landwirtschaft unterwiesen.“21 Über die Initiative wird in großer Aufmachung berichtet. Die Wiener Bilder widmen ihr Anfang August sogar das Titelfoto (Abb.  14). „Unser Bild zeigt“, so heißt es in der Legende, „amerikanische Studentinnen, die nach beendeter Feldarbeit heimkeh- ren.“22 Lachend, in sauberen Kleidern, den Rechen auf der Schulter, schreiten sie zwischen einheimischen, in Tracht gekleideten jungen Männern dahin. Die länd- liche Idylle ist perfekt. Aus den Amerikanerinnen sind – fast – Österreicherinnen geworden. Abb.  14  Lachend,  in  sauberen  Kleidern,  den  Rechen  auf  der  Schulter.  Amerikanische  Studentinnen,  die  im  Tiroler  Ötztal  einen  „Melker-  und  Land- wirtschaftskurs“  besuchen.  Wiener Bilder,  4.  August  1935,  Titelseite.