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278 Bubikopf und Zigarette · Bilder der „Neuen Frau“ neuen Rolle im Berufsleben gezeigt wird. Vielmehr
basiert ihre Darstellung auf einer Mischung aus Rea-
lität und Projektion. Sie ist ein Wunsch- und zugleich
ein Angstbild, das alle möglichen Sehnsüchte, aber
auch Befürchtungen bündelt. Und so nimmt es nicht
wunder, dass die Umrisse dieses Bildes am deut-
lichsten nicht im Alltagsleben oder auf der Straße,
sondern im Theater, im Kino und in der illustrierten
Presse zutage treten. Die „Neue Frau“ erscheint zu-
erst dort, wo neue Rollen im Scheinwerferlicht der
Bühne ausprobiert werden.
Wenn wir die öffentlichen Inszenierungen vor al-
lem der weiblichen Bühnen- und Filmstars der 1920er
Jahre Revue passieren lassen, zeigt sich bereits rein
äußerlich ein deutlicher Trend im Frauenbild. Ihr
Äußeres wird androgyner, die Haare kürzer, die
neuen Kleider sind einfach und knapper geschnitten.
Die „Neue Frau“, die in Magazinen und Zeitschriften
auftaucht, spielt mit männlichen und weiblichen
Rollen, sie kann das kecke Girl ebenso verkörpern
wie die wehrhafte Amazone. Sie wird ebenso als
hysterische Kindfrau dargestellt wie als kraftvolle,
schlanke, gebräunte Sportlerin.
Im November 1919 bringt die neu gegründete (und
kurzlebige) Zeitschrift Die Kinowoche auf der Titelsei-
te ein Porträt der österreichischen Filmschauspiele-
rin Carmen Cartellieri. Die Aufnahme, die aus dem
Atelier d’Ora stammt, ist – zumindest auf den ersten
Blick – noch der alten Zeit verpflichtet (Abb.
2). Die
Schauspielerin tritt uns in ihrer barock anmutenden
Bühnenkleidung entgegen. Sie entsteigt schemenhaft
dem Dunkel des (Bühnen-)Hintergrundes. Ihr Ge-
sicht wird, ganz im Stil der damals modernen kunst-
fotografischen Richtung, im Wechsel von Licht und
Schatten modelliert. Die Umrisse ihrer Gestalt sind
verschwommen. Wenn man den Bühnenstar nicht
kennt, ist es schwer zu entscheiden, ob die Insze-
nierung eine ungarische Gräfin oder eine bekannte
Schauspielerin zeigt.
Wie anders ist das Porträt, das dieselbe Zeitschrift
im Dezember 1919, also nur wenige Wochen später,
von Carmen Cartellieri bringt (Abb.
3)! Diesmal er-
scheint die Protagonistin auf der Titelseite in ganz
anderer Aufmachung. Voll sprühender Erotik wendet
sie den Blick geradezu herausfordernd und kokett
Frauen, die aus ihren scheinbar angestammten Rollen
ausbrechen, auch belächelt und kritisiert. Und letzt-
lich werden sie wieder am alten Frauenbild gemes-
sen. Beim Automobilrennen im Oktober 1923 geht
es nicht nur um die Geschwindigkeit der Wagen und
ihrer Pilotinnen, sondern auch – um ihre Schönheit.
Es werden eigens Schönheitspreise ausgelobt, für die
Fahrerinnen ebenso wie für die Autos.
Die Bilder der „Neuen Frau“ tauchen nicht zufäl-
lig nach dem Ende des Krieges auf. Dieser hatte die
ökonomischen Verhältnisse zwischen den Geschlech-
tern – zumindest zeitweise – tief greifend verändert.
Neben den handfesten wirtschaftlichen und sozialen
Umbrüchen kommt es in der Zwischenkriegszeit aber
auch zu einer Verschiebung der Vorstellungsbilder.
Die „Neue Frau“ – das ist in den allermeisten Fällen
nicht die Arbeiterin oder die Angestellte, die in ihrer
Abb.
2 Die österreichische
Schauspielerin Carmen Car-
tellieri. Die Kinowoche, Nr.
10,
November 1919, Titelseite.
Foto: Atelier d’Ora.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang