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279Erschütterungen
im Verhältnis der Geschlechter
in Richtung Betrachter. In der Hand hält sie eine Zi-
garette, ihre Schultern sind tief entblößt. Die Haare,
geziert mit einer Rose, trägt sie hoch aufgesteckt. Ist
das dieselbe Cartellieri? Ja und nein. Die zeitliche
Spanne, die zwischen beiden Inszenierungen liegt,
ist gering. Und dennoch liegen Welten zwischen bei-
den Bildern. Die zweite Aufnahme stammt, das ist
auffallend, nicht von einem bekannten Wiener Ate-
lier, sondern von der Filmfirma „Carmen-Film“. Es
handelt sich dabei um eine Produktionsgesellschaft,
die die Schauspielerin Cartellieri zum Jahreswechsel
1919/20 gründet. Sie will die Herstellung und Ver-
marktung von Filmen selbst in die Hand nehmen.4
Genau zur Zeit der Firmengründung tritt Carmen
Cartellieri in einer sorgsam vorbereiteten Öffentlich-
keitskampagne mit neuem Äußeren auf. Sie verän-
dert ihren Look und ihr Image. Sie inszeniert sich als
das, als was sie in der Welt der filmischen Projektion
erscheinen will: die Femme fatale, die verführerische
Diva, die erfolgreiche „Neue Frau“. Sie bewegt sich
also souverän zwischen den unterschiedlichen Rol-
lenbildern, die nach dem Krieg auf der Bühne und im
Film ausprobiert werden und die wenig später auch
in der Mode begegnen. Im Innenteil der Kinowoche
wird der Filmstar des frühen österreichischen Kinos
als verführerische Carmen-Figur beschrieben, gewis-
sermaßen als spanische „Zigeunerin“. Die „dunklen
faszinierenden Augen der rassig-schönen Künstlerin,
das temperamentvolle Mienenspiel, das ganze Wesen
kennzeichnen sie als Kind des Südens.“5 Ein Kind des
Südens ist Carmen Cartellieri zwar nicht, mit Vorna-
men heißt sie eigentlich Franziska Ottilia, geboren ist
sie in Mähren, aufgewachsen in Innsbruck.6 Aber der
Zuneigung ihres wachsenden Publikums tun diese
Flunkereien keinen Abbruch. Sie wird ohnehin als
das gesehen, was sie – auf der Leinwand – darstellt:
die Cartellieri.
Noch einmal wird „die Cartellieri“ im Jahr 1920 in
großer Aufmachung auf der Titelseite der Kinowoche
präsentiert (Abb.
4). Diesmal tritt uns die Schauspie-
lerin als Skifahrerin auf dem Semmering im Look der
„Neuen Frau“ gegenüber. In eng anliegenden Sport-
hosen, eleganter Jacke und dazu passender Mütze.
Wiederum hat sie den Blick kokett zum Betrachter
gewandt. Und auch diesmal wird das Bild von der Abb.
3 Die kokette Diva.
Carmen Cartellieri
in erotischer
Pose
mit entblößter Schulter und Zigarette.
Die Kinowoche, Nr.
13,
Dezember
1919, Titelseite. Foto: Carmen-Film.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang