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330 Dramatische Nähe · Sport und Fotografie
neue Blätter gegründet. Auch Gesellschaftsmagazi-
ne, die bisher ohne Sportrubrik ausgekommen sind,
bringen nun immer wieder ausführliche Bildberichte.
Nach 1918 kommt es zu einem Generationen-
wechsel unter den Sportfotografen. Zwar sind nach
wie vor einige Protagonisten der Vorkriegsfotografie
aktiv, etwa Heinrich Schuhmann oder Carl Seebald,
die auch unmittelbar nach dem Krieg Fußballspiele
dokumentieren. Aber die Szene ist Anfang der 1920er
Jahre von aufstrebenden jungen Fotografen wie Rü-
belt, Franta, Brodt, Uttenthaler u. a. geprägt.
Politisierte Spiele
Die Massenbegeisterung für den Fußball hat in
der Zwischenkriegszeit eine dunkle Kehrseite. In den
sportlichen Enthusiasmus mischen sich Patriotismus,
Parteienkampf und Antisemitismus. Ein Spiel zwi-
schen Rapid, der Austria oder der Admira und dem
jüdischen Wiener Sportclub Hakoah ist in den 1920er
und 1930er Jahren auch ein politisches Derby, in dem
es nicht nur um spielerische Erfolge, sondern auch
um die Losungen der Tagespolitik geht.
Als die beiden Wiener Klubs Rapid und Hakoah
Anfang Dezember 1927 einander gegenüberstehen
und der jüdische Verein eine haushohe Niederlage
einstecken muss, tritt der Antisemitismus in der
Berichterstattung ganz offen zutage. „Welch ein Zu-
sammenbruch!“, heißt es im Illustrierten Sportblatt.18
„Das 9 : 1-Resultat, mit dem am letzten Sonntag nicht
gerade eine Elite-Rapid-Elf die Blau-Weißen (Hakoah,
A. H.) auf dem Hakoah-Platz vernichtend schlug, ist
mehr als ein Debakel, das Tageskonstellationen im
Fußball mitunter schaffen können. Es ist der Schluß-
punkt einer ungesunden Entwicklung, die innen und
außen verzehrend am Marke der Krieauer fraß.“19
Die Niederlage sei, so heißt es im Artikel weiter, Aus-
druck einer sportlichen und moralischen Krise. Ohne
dass der Begriff „jüdisch“ fällt, wird deutlich, dass
dieses Attribut im Zentrum der Begründung steht.
Der Niedergang der Hakoah wird in der Folge
als moralische Verirrung gedeutet, als Krankheit,
als „Infektion“, als Folge materieller Hybris und ge-
schäftlicher Gier. Das Vokabular bedient sich aller
gängigen antisemitischen Vorurteile. „Hier ist seit langem ein Prozeß der Auflösung im Gang und sein
dramatischer Knalleffekt lautet eben 9 : 1. Hakoah
ist schon die längste Zeit krank. Ihr Verfall begann
eigentlich schon mit dem Höhepunkte ihrer Erfolge.
Ruhmvolle Siege verschleierten damals, daß das ge-
sunde Prinzip sich aus eigener Kraft, den Platz an
der Sonne zu erkämpfen, verlassen wurde. Fremde,
bloß im Materiellen wurzelnde Spieler wurden ein-
gestellt, sie infizierten die ‚Bodenständigen‘, (...) der
Nachwuchs wurde vernachlässigt oder unkundigen
Personen anvertraut und treue, von Idealismus erfüll-
te Mitglieder abgestoßen. Neue Menschen tauchten
auf, die Fußballkonjunktur brachte zum größten Teile
Konjunkturelemente; persönliche Interessen und Ge-
schäftsmomente traten in den Vordergrund. (...) Dann
kamen die Amerikareisen. Sie endeten mit dem Ver-
lust fast des gesamten erstklassigen Spielermaterials,
während die meist unbeträchtlichen Dollardividenden
in erster Linie auf Spieler und Reisebegleiter zur Aus-
schüttung kamen.“20
An diesem Beispiel wird deutlich, dass der Antise-
mitismus im Wiener Fußball bereits lange vor 1938
weitverbreitet ist, nicht nur aufseiten der Zuschauer,
sondern auch in der Presse. Nach dem „Anschluss“
im Frühjahr 1938 wird aus den süffisanten Anspie-
lungen plötzlich bitterer politischer Ernst. Jüdische
Spieler werden verfolgt, deportiert und ermordet,
Hakoah wird als Verein enteignet und zerschlagen.
Auch bei den Fotografen trennen sich die Wege.
Jüdische Fotografen erhalten keine Aufträge mehr,
viele von ihnen verlassen das Land, andere werden
deportiert. Mitläufer, Opportunisten und Parteigän-
ger machen hingegen Karriere. Zu ihnen zählen die
Sportfotografen Mario Wiberal, Anton Doliwa und
Franz Blaha, die vom Regimewechsel profitierten. Zu
ihnen gehört aber auch der Star der Sportfotografie
dieser Jahre, Lothar Rübelt. Er hat, wie berichtet,
nach 1933 bereits wiederholt in der gleichgeschalte-
ten deutschen Presse veröffentlicht. Bei den Olym-
pischen Spielen in Berlin 1936 ist er der einzige aus
Österreich stammende Fotograf, der für die renom-
mierte Berliner Illustirte Zeitung arbeitet. 1938 be-
grüßt er die neuen Machthaber freudig, arrangiert
sich schnell mit den neuen Redakteuren und Heraus-
gebern und arbeitet weiter wie gewohnt.21
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang