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431Antisemitismus
Reiffenstein. Sie zeigen Außen- und Innenansichten
der beiden Häuser. Das Haupthaus ist an der Stirnsei-
te mit der NS-Fahne beflaggt, ein Zeichen dafür, dass
der Inhaber ein strammer Gefolgsmann des neuen
Regimes ist. Dass das Kleiderhaus bis vor Kurzem
einem jüdischen Besitzer gehörte, wird nur durch ei-
nen winzigen, in Klammern gesetzten Zusatz in der
Überschrift deutlich. Sie lautet: „Kleiderhaus Thomas
Krabath (vorm. Kleiderhahn)“. Das „Kleiderhahn“ war
bis 1938 ein bekanntes Wiener Textilhaus, am 21. Juni
1938 wird es vom neuen Besitzer Thomas Krabath,
einem Nationalsozialisten, übernommen.30
Zwar finden die Raubzüge der Nationalsozialisten
in den ersten Monaten nach dem „Anschluss“ keinen
Niederschlag in Zeitungsbildern, der Antisemitismus
wird aber schon sehr früh in aller Öffentlichkeit ge-
schürt. Vom 2. August bis 23. Oktober 1938 ist in der
Wiener Nordwestbahnhalle, an jenem Ort, wo Hitler
am 9. April 1938 seine letzte Rede vor der Volksab-
stimmung gehalten hat, die Ausstellung „Der ewige
Jude“ zu sehen (Abb.
12). Die importierte Schau, die
seit 1937 durch zahlreiche deutsche Städten tourt,
wird in Wien um eine eigene österreichische Abtei-
lung ergänzt. 350 000 Besucher werden die Ausstel-
lung im Sommer 1938 sehen.
Wenige Monate später, Mitte Januar 1939, be-
ginnen die Wiener Bilder unter dem Titel „Auf den
Spuren Ahasvers“ eine mehrteilige Serie, die in den
kommenden Wochen fortgesetzt wird.31 Es ist die
erste große antisemitische Hetzkampagne in der
Wiener illustrierten Presse. In der ersten Folge der
Serie ist ein Foto Sigmund Freuds zu sehen, das Hans
Casparius 1933 in dessen Sommerwohnung auf der
Hohen Warte aufgenommen hatte und das Mitte der
1930er Jahre noch in einem ganz anderen Kontext
veröffentlicht wurde (Abb.
13).32 Es zeigt Freud auf
dem Balkon des Hauses, zu seinen Füßen haben seine
beiden Chow-Chows Platz genommen. Nun, 1939, ist
das Freud-Bild Teil einer antisemitischen Tirade. Im
Bildtext wird der Psychoanalytiker, der inzwischen
nach London geflüchtet ist, diffamiert: „Der ‚Wissen-
schaftler‘ Siegmund (sic!) Freud erfand die Psycho-
analyse, nach der der Sexualtrieb der Motor für die
gesamte menschliche Lebensentfaltung sein sollte.
Diese Pseudo-Wissenschaft wurde damals von der gesamten Judenpresse als wissenschaftliche Großtat
aufgezogen.“33
Der die Serie einleitende Text lautet: „Wir begin-
nen in dieser Nummer mit dem Abdruck einer Reihe
aktueller Tatsachenberichte über das wahre Gesicht
des Judentums. Der Jude ist und bleibt in jeder Lage
und jeder Maskierung ganz ausschließlich Jude. Dies
hat sich vornehmlich in der Ostmark und speziell in
Wien erwiesen, wo er, von den maßgebenden Re-
gierungsstellen wohlwollend gefördert, Gelegenheit
hatte, in die Gebiete des öffentlichen Lebens einzu-
dringen und die Vorherrschaft im kulturellen Leben
an sich zu reißen. Wohl kaum auf einem Gebiete hat
sich die unheilvolle Tätigkeit des Judentums so ver-
heerend ausgewirkt wie auf diesem. Von den Macht- Abb.
11 Nach
der „Arisierung“:
Das jüdische Textilhaus „Klei-
derhahn“ geht im Juni
1938
in den Besitz des strammen
Nationalsozialisten Thomas
Krabath über, der das Geschäft
mit einer
NS-Fahne beflaggt.
Wiener Illustrierte, 30.
März
1939, S.
12. Fotos: Bruno
Reiffenstein.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang