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440 Eine andere Kulturgeschichte · Schluss
len. Auf der anderen Seite, und das ist im vorliegen-
den Zusammenhang besonders interessant, sind die
fotografischen Bilder auch Projektionen, Wunsch-
bilder, die fremde, unzugängliche oder tabuisierte
Bereiche des Lebens eröffnen. Die voyeuristische
Bildberichterstattung hat also auch die Funktion,
bürgerliche Lebenswelten zu befestigen, indem sie
Ausbrüche in der Fantasie ermöglichen. Eine ähnli-
che Rolle spielt im Übrigen auch das frühe Kino, das
ebenfalls gesicherte, zeitlich befristete Ausbrüche aus
dem bürgerlichen und kleinbürgerlichen Leben anbie-
tet.11 Es ist wichtig, auch diesen zweiten, oft wenig be-
achteten Aspekt der frühen Pressefotografie im Auge
zu behalten, wenn man das Medium in seiner breiten
kulturgeschichtlichen Bedeutung erfassen will.
Der enorme Erfolg der illustrierten Presse in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt nicht zuletzt
darin, dass es ihr gelungen ist, eine Art Echoraum
bürgerlicher Wünsche und Sehnsüchte zu bilden.
Gerade in einer Epoche, in der das bürgerliche
Selbstverständnis nicht mehr klar umrissen und das
kollektive Selbstbewusstsein dieser Schicht brüchig
geworden ist, bildet die fotografische Bilderwelt, die
Woche für Woche in den auflagenstarken Zeitungen
aufbereitet wird, eine stabilisierende Klammer.
Die Berichterstattung bestätigt die eigenen Werte
und zugleich ermöglicht sie es, aus sicherer
Entfernung (gewissermaßen vom Lehnsessel im
Wohnzimmer aus) den spektakulären Verlockungen
und den verbotenen Verheißungen nachzugeben, um anschließend wieder in die wohlgeordnete und
gesittete gutbürgerliche Welt zurückzukehren.
Der fotografische Boulevard, der sich um die Jahr-
hundertwende durchsetzt, gleicht in seiner Struktur
den „Faits divers“, den „vermischten Meldungen“.
Diese journalistische Gattung hält, wie wir gesehen
haben, Ende des 19. Jahrhunderts Einzug in die bür-
gerliche Presse.12 Es handelt sich um klar vom Rest
der Zeitung abgegrenzte populäre Einsprengsel, um
voyeuristische Kurzgeschichten, um spektakuläre
und halb fiktive Begebenheiten, die dem Bedürfnis
entgegenkommen, für einen Augenblick aus der ge-
ordneten bürgerlichen Welt auszubrechen. Die po-
puläre Bildpresse übernimmt das Konzept der „ver-
mischten Meldungen“, weitet es im Umfang stark aus
und setzt die Fotografie zur Bebilderung des Spekta-
kulären ein. Die „Faits divers“ sind zwar kleine Ex-
zesse, kurzfristige Ausbrüche aus der bürgerlichen
Ordnung, aber sie stellen diese nicht infrage. Sie loten
das Regime des Anstands und der Moral aus, indem
sie dessen Grenzen mit den Mitteln des Voyeurismus
überschreiten. So sensationslüstern die Berichterstat-
tung in den populären Zeitungen auch ist, eines ist
klar: Die bürgerliche Bildpresse achtet stets darauf,
sich deutlich von der Skandal- und Revolverpresse
oder der pornografischen Publizistik abzugrenzen.13
Letztlich sind die neugierigen Ausflüge ins Reich des
Populären also nichts anderes als geführte Fantasie-
reisen, die das Territorium der bürgerlichen Kultur
nie verlassen.
Das langsame Ende der illustrierten Presse
Mehr als ein halbes Jahrhundert lang, von der
Jahrhundertwende bis in die Zeit nach dem Zweiten
Weltkrieg, ist die Pressefotografie das dominierende
bildliche Nachrichtenmedium in der westlichen Welt.
Erst danach wird die illustrierte Presse allmählich
vom Fernsehen abgelöst. Zwar erhalten die Illust-
rierten zeitweise auch Konkurrenz, etwa durch die
Wochenschauen im Kino, die ab den 1930er Jahren
ebenfalls bildliche Nachrichten (ebenso wie Sensatio-
nen) für ein breites Publikum anbieten. In den 1950er
und 1960er Jahren setzen die illustrierten Wochen-
blätter und -magazine in vielen Ländern zu einem
Abb.
2 Raubmord im Café
Regensburg in Karlsbad. „Die
bei dem
Überfall verwundete
Cafetiersgattin Frau Honisch
in ihrem
Schlafzimmer, in
welchem die ersten
Schüsse
fielen“. Das interessante Blatt,
10.
Juli 1902, S.
7.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang