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schritte stammen aus Alexandria968, Augusta Rau-
rica-Augst969, Escolives-Sainte-Camille970, Köln971,
Lugdunum-Lyon972 und Pergamon973. Das Artefakt
Kat. 581 möchte ich als Beleg für den Arbeitsschritt
des länglichen Aufspaltens von Röhrenknochen in
Flavia Solva-Wagna anführen.
Sowohl Produktionsabfälle als auch Halbfabrikate
sind bezüglich der Beinobjekte aus Insula XLI anzu-
führen. Lediglich für die weitere Produktion vorbe-
reitend bearbeitete Knochen, z. B. durch Absägen
der Epiphysen, werden als ›Rohlinge‹ bezeichnet.
Abfälle, die im Zuge der Produktion anfielen, werden
als Produktionsabfälle bezeichnet. Bei den Produk-
tionsabfällen ist zwischen Artefakten, die im Zuge
der Bearbeitung generell als gleichsam beabsichtig-
ter Abfall anfielen (z. B. Kat. 583), und solchen, bei
denen es sich um misslungene, z. B. während des
Produktionsprozesses zerbrochene Halbfabrikate
oder Rohlinge, quasi unbeabsichtigten Abfall (z. B.
Kat. 511) handelt, zu differenzieren. Bei verschiede-
nen Stücken muss offenbleiben, ob es sich um ein
unfertiges Halbfabrikat, ein während der Produktion
gebrochenes und deshalb als Produktionsabfall
ausgeschiedenes Halbfabrikatfragment oder beab-
sichtigten Produktionsabfall handelt. Beabsichtigter
Produktionsabfall ist im Rahmen der Beinverarbei-
tung in der Regel nicht weiter verwendbar. Unbe-
absichtigter Produktionsabfall könnte eventuell im
Rahmen einer Umarbeitung wieder in den Produk-
tionsprozess eingegliedert worden sein. Vom Pro-
duktionsabfall zu differenzieren sind Fragmente, die
im Rahmen der Produktion eines Artefakts anfie-
len und für die weitere Produktion dieses Artefakts
nicht relevant waren, jedoch zur Produktion eines
anderen Artefakts herangezogen werden konnten.
Vielleicht handelt es sich bei den kleinen, mit einer
Nut versehenen Beinfragmenten Kat. 528 – 529 um
solche für weitere Herstellungsprozesse vorgese-
hene Werkstücke. Das beabsichtigte Ergebnis der
Produktionskette wird als Fertigprodukt bezeichnet.
Auffallend ist, dass intakte Fertigprodukte im vorlie-
genden Fundmaterial fehlen. Dieses Glied der Her-
stellungskette fehlt. Da Lagerbestände an Fertigpro-
dukten nicht vorliegen, darf vielleicht daran gedacht
werden, dass es sich entweder um Herstellung und
Verkauf nach Bedarf handelt, oder dass Herstel-
lung sowie Lagerung und/oder Verkauf an jeweils
separaten Orten erfolgten. Im Zusammenhang mit
dem Fehlen von Fertigprodukten ist ein Vergleich
mit der Befundlage in Augusta Raurica-Augst von
968 Rodziewicz 1998, 143 – 146 Abb. 12 – 13.
969 Schmid 1972, 44 f. Abb. 7; Deschler-Erb 1998, 95 Abb. 151;
199; 421 Taf. 69.
970 Prost 1993, 275 f. 282 Taf. 1, 24 – 25.
971 Berke 1989, 891 Abb. 15 – 16.
972 Desbat 2010, 71 Abb. 28.
973 von den Driesch – Boessneck 1982, 566 Abb. 4; 568 (»von
der Knochenröhre zur Knochennadel«). Interesse, wo Fertigprodukte gegenüber Manufak-
turüberresten mit einem Verhältnis von 12 : 1 deut-
lich überwiegen974. Die für die Insula XLI von Flavia
Solva-Wagna vorliegende Häufung von Abfall und
Halbfabrikaten der Beinverarbeitung darf wohl als
ein Indiz für die Lokalisierung von Werkstätten im
Bereich der Insula XLI, konkret in den Räumen P
und Q von Haus IV, bewertet werden (vgl. Kap. 10).
Bei einigen Artefakten, z. B. der Beinnadel Kat. 507,
ist nicht auszuschließen, dass diese erst nach der
Fertigstellung unbrauchbar wurden. Derartige Arte-
fakte wären mit dem allgemeineren Begriff Abfall zu
bezeichnen; ihr unbeabsichtigtes Zustandekommen
wird vorausgesetzt.
Ohne in diesem Zusammenhang näher auf die
komplexe Thematik möglicher Wiederverwertung
oder weiterer Verwendbarkeit von Abfällen oder der
›Zweckentfremdung‹ von intakten oder unbrauch-
bar gewordenen Fertigprodukten eingehen zu wol-
len, bietet Abbildung 36 einen Überblick über das
beschriebene, nach den Kriterien der Absicht und
eventuell weiteren Verwendbarkeit orientierte Klas-
sifikationssystem von Artefakten, die im Rahmen
des Produktionsprozesses von Beingegenständen
entstehen können.
Mit dem Zerlegen der Tiere durch den Metzger in
Zusammenhang zu bringende Hack- und Schnitt-
spuren wurden im Klassifikationssystem nicht
berücksichtigt, da diese von der Produktionskette
eines anderen Handwerks mit anderen Endproduk-
ten stammen.
Für Abbildung 36 wurden einige der vorliegenden
Beinartefakte als Beispiele für die dargestellten Pro-
zesse ausgewählt. Bei dem Schulterblatt mit Säge-
spur Kat. 588 könnte es sich um einen sog. Rohling
handeln. Das mögliche Halbfabrikat eines Schar-
nierelements Kat. 582 dient als Beispiel für ein
Halbfabrikat. Mangels Fertigprodukten im Fundma-
terial wurde vom fragmentierten Artefakt Kat. 507
ausgehend eine Schmucknadel aus Bein rekon-
struiert. Das mögliche Grifffragment Kat. 511 wird
als Klappmessergriff rekonstruiert wiedergegeben.
Die abgesägte Epiphyse Kat. 583 dient als Beispiel
für ein Abfallstück, das im Rahmen der Erzeugung
eines Rohlings beabsichtigt anfällt und mangels
Wiederverwertung im Produktionsprozess ande-
rer Beinartefakte vom Herstellungsprozess ausge-
schieden wird. Bei dem bearbeiteten Langknochen
Kat. 580 könnte es sich um einen Rohling handeln,
der unbeabsichtigt während der Weiterverarbeitung
gebrochen ist. Die vertikal verlaufende Bruchlinie
(die Fragmente wurden von mir zusammengesetzt)
ist ein Hinweis dafür. Es ist grundsätzlich nicht aus-
zuschließen, dass derartige Fragmente im Rahmen
der Herstellung eines anderen Artefakts als des
ursprünglich vom Handwerker beabsichtigten wie-
974 Deschler-Erb 1998, 195 f.
Ein Brandhorizont aus der Zeit der Markomannenkriege im südostnorischen Munizipium Flavia Solva
- Titel
- Ein Brandhorizont aus der Zeit der Markomannenkriege im südostnorischen Munizipium Flavia Solva
- Autor
- Christoph Hinker
- Verlag
- Österreichisches Archäologisches Institut
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-900305-70-3
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 344
- Schlagwörter
- Flavia Solva, materielle Kultur, Artefakt (Archäologie), Brom, Glimmergruppe, Insula, Magerung, Thüringische Drehscheibenkeramik
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- Einleitung 9
- 1 Lage 11
- 2 Historischer Kontext 15
- 3 Forschungsgeschichte 23
- 4 Forschungsmeinungen 27
- 5 Quellenkritik 31
- 6 Terminologie 35
- 7 Taphonomie 37
- 8 Exkurs: Korrespondierende Befunde im Munizipium Flavia Solva? 49
- 9 Die Architektur der Insula XLI (Haus I–VI) 51
- 10 Definition von Aktivitätszonen 57
- 10.1 Exkurs: Grube G21 66
- 10.2 Exkurs: Grube G32 72
- 11 Fundauswertung 77
- 12 Chronologie 153
- 13 Technologie und Werkstätten 157
- 14 Der Brandhorizont der Insula XLI im urbanen kultur-geschichtlichen Kontext von Flavia Solva 167
- 15 Brandzerstörungen aus der Zeit der Markomannenkriege in Noricum, Pannonien und Rätien 171
- 16 Diskussion: Ergebnisse und ihr Verhältnis zum historischen Kontext 179
- 16.1 Holzarchitektur 180
- 16.2 Schadensfeuer 180
- 16.3 Pompeji-Prämisse 180
- 16.4 Militaria 181
- 16.5 Menschliche Skelettreste 182
- 16.6 Übrige Funde, speziell Metallfunde 183
- 16.7 Bebauungsmuster der Insula XLI nach Periode II/II+ 184
- 16.8 Forschungsstand zu Flavia Solva 186
- 16.9 Die südostnorische Siedlungslandschaft und das Szenario eines Germaneneinfalls 186
- 16.10 Tradierung von Forschungsmeinungen versus kritischer Prüfung 187
- 16.11 Fragenkatalog und Synthese 187
- 17 Ausblick: Zur Frage der Historizität in der Provinzial- römischen Archäologie 189
- 18 Resümee 195
- 19 Katalog 199
- 20 Tafeln 263
- Tafeln 1 – 43 265
- Fototafeln 1–9 308
- Typentafel mit Tabellen 20 und 21 317
- 21 Anhang 321